18.07.2018

Warum das Volk souverän sein muss

Von Frank Furedi

Titelbild

Foto: clareich via Pixabay / CC0

Populismuskritik verkennt die Bedeutung des Nationalstaats für die Demokratie und die der Staatsangehörigkeit für politisches Handeln.

Die antipopulistische Rhetorik im 21. Jahrhundert unterscheidet sich kaum von der antidemokratischen Volksbeschimpfung im antiken Athen. Beide sind beseelt von der Verachtung für das Volk, das bei den klassischen Philosophen „die Vielen" hieß. Diese herablassende Art gegenüber „den Vielen“ ist mit der Überzeugung verknüpft, dass die Politik am besten von „den Wenigen“ gemacht werden sollte. Daher sind antipopulistische Ideologen – damals wie heute – zutiefst antimajoritär, also gegen die Mehrheit gerichtet. Sie gehen davon aus, dass die Vielen die Mehrheit bilden und ihre potenzielle Macht nutzen werden, um auf alle anderen Druck und Zwang auszuüben. Solche antipopulistischen Vorstellungen sind heutzutage in den Kreisen der politischen und kulturellen Eliten weit verbreitet. Hier zum Beispiel eine Passage aus einem kürzlich erschienenen Kommentar:

„Populisten verabscheuen Einschränkungen der politischen Führung. Sie behaupten, ‚das Volk‘ umfassend zu vertreten und sehen in einer Begrenzung ihrer Machtausübung daher zwangsläufig eine Unterminierung des Volkswillens. Solche Beschränkungen können nur den ‚Volksfeinden‘ dienen – Minderheiten und Ausländer (für Rechtspopulisten) oder Finanzeliten (für Linkspopulisten). Dies ist eine gefährliche Herangehensweise an Politik, denn sie gestattet einer Mehrheit, die Rechte von Minderheiten mit Füßen zu treten.“

Hierbei ist es wichtig festzustellen, dass die vermeintliche Bedrohung durch das tyrannische Verhalten der Mehrheit genutzt wird, um antimajoritäre Politik und Institutionen zu rechtfertigen. Um die Herrschaft der Wenigen zu legitimieren, hinterfragen und kritisieren antipopulistische Kreuzritter oft drei Ideale: Volkssouveränität, Demokratie und Staatsbürgerschaft. Im Laufe ihrer Geschichte waren diese drei Ideale oft miteinander verknüpft. Schon im alten Athen war der Begriff des Demos eng an die Staatsbürgerschaft und die Annahme gekoppelt, dass den Bürgern ihre Regierung gehört. 1 Umgekehrt war und ist die Einschränkung der Rolle des Bürgers und die Herabstufung seines moralischen Status das Erkennungszeichen einer oligarchischen antipopulistischen Einstellung.

Volkssouveränität vs. Elitenherrschaft

Volkssouveränität beruht auf der Überzeugung, dass die Legitimität des Staates durch den Willen oder die Zustimmung seines Volkes entsteht. Von diesem Standpunkt aus ist das Volk die Quelle aller politischen Macht. Das wiederum stößt denjenigen sauer auf, nach deren Vorstellung Politik in erster Linie Sache von Experten und Eliten sein sollte. Dass Antipopulisten „den Wenigen“ den Vorzug gegenüber „den Vielen“ geben, wird auch durch ihre negative Sicht auf die Fähigkeit der Massen motiviert. Die Massen gelten ihnen als unfähig oder ungeeignet, den Kurs der Gesellschaft zu beeinflussen. Daher wird Volkssouveränität als Bedrohung der Gesellschaft, ja sogar als Bedrohung der Aufrechterhaltung von Ordnung und politischer Stabilität wahrgenommen.

„Die Volkssouveränität wird nicht nur als Abstraktion abgetan, sondern auch als Fiktion, um den Wenigen zu ermöglichen, über die Vielen zu regieren.“

Selbst einige liberale Kritiker äußern Vorbehalte gegen die Rolle der Volkssouveränität. Sie erkennen an, dass die Legitimität einer Regierung von ihrer Fähigkeit abhängt, die Zustimmung der Öffentlichkeit zu ihrem Handeln und ihrer Politik zu gewinnen. Rhetorisch bejahen sie die Demokratie. Dieses Ja gilt jedoch nur eingeschränkt und unter Vorbehalt. Dies war auch während der Amerikanischen und Französischen Revolution der Fall, als der moderne Begriff der Volkssouveränität an Bedeutung gewann.

Die unterschiedlichen Einstellungen zur Volkssouveränität hängen an der Bewertung der intellektuellen und moralischen Fähigkeiten des Volkes. Die meisten Kommentare zur Volkssouveränität drücken dabei die Einschätzung aus, dass man den Vielen nicht trauen kann, eine konstruktive Rolle im öffentlichen Leben zu spielen. Die Volkssouveränität wird nicht nur als Abstraktion abgetan, sondern auch als Fiktion, um den Wenigen zu ermöglichen, über die Vielen zu regieren. 2 Antipopulistische Autoren behaupten sogar, dass das Volk sich immer zu Marionetten einer manipulativen Elite entwickelt.

Selbst Jean-Jacques Rousseau, der oft als einer der Hauptbegründer des modernen Ideals der Volkssouveränität gilt, äußerte tiefe Vorbehalte gegenüber der Fähigkeit des Volkes, die Kontrolle über die Angelegenheiten des Staates zu übernehmen. So schrieb er: „[…] Wenn wir den Begriff im engeren Sinne verwenden, hat es und wird es nie eine echte Demokratie geben. Es verstößt gegen die natürliche Ordnung, dass die Vielen regieren und die Wenigen regiert werden. Es ist unvorstellbar, dass das Volk ständig versammelt bleibt, um sich den öffentlichen Angelegenheiten zu widmen. Zudem ist klar, dass sie zu diesem Zweck keine Ausschüsse einrichten können, ohne die Form der Verwaltung zu ändern“. 3 Außerdem ging Rousseau davon aus, dass eine „demokratische und souveräne Versammlung unweigerlich scheitern und korrumpiert“ werden würde. Er schlug eine neue Art von Demokratie vor, in der die Bürger „die wahren Gesetzgeber in Grundsatzfragen sein könnten, die weniger wichtigen Fragen aber ihren Vertretern überlassen“. 4

Seit dem 18. Jahrhundert haben die meisten westlichen Gesellschaften durch eine Form der repräsentativen Demokratie versucht, die Volkssouveränität mit der Parlamentssouveränität in Einklang zu bringen. Doch viele antimajoritäre Kommentatoren sehen sogar in der Parlamentssouveränität einen zu direkten Einfluss des Volkswillens. Daher wenden sie sich lieber der Rechtsprechung zu, den Gerichten, Experten und transnationalen Institutionen, um den Einfluss der öffentlichen Meinung auf die Arbeit der Entscheidungsträger zu minimieren.

„Transnationale Institutionen stellen die Souveränität und die Rolle des Bürgers in Frage.“

Die Wirkungsweise dieser Auslagerung von politischer Entscheidungsfindung im Nachkriegseuropa lässt sich wie folgt beschreiben: „Die Abkapselung vom Druck der Bevölkerung und im weiteren Sinne ein tiefes Misstrauen gegenüber der Volkssouveränität bilden nicht nur die Grundlage für die Anfänge der europäischen Integration, sondern generell auch für den politischen Wiederaufbau Westeuropas nach 1945. […] Bei der ‚konstitutionellen Nachkriegslösung‘ ging es darum, die europäische Politik von den Idealen der Parlamentssouveränität zu entfernen und die Macht an nicht gewählte Organe, wie etwa Verfassungsgerichte, oder an den Verwaltungsstaat als solchen zu delegieren.“ 5

Als wichtiges nicht-gewähltes Organ sind außerdem die transnationalen Institutionen zu nennen. Viele von ihnen sind erst in den letzten Jahrzehnten entstanden. Man denke dabei an die internationalen Gerichte, an die EU, den IWF und die UNO. Sie alle stellen implizit – und zunehmend explizit – die Souveränität und die Rolle des Bürgers in Frage. Diese Institutionen werden von Befürwortern des Globalismus vorangetrieben, für die der freie Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr sowie die Vormachtstellung der Menschenrechtsgesetze den Sinn der nationalen oder staatlichen Souveränität untergräbt. 6 Dies geht Hand in Hand mit der Entmachtung von Volkssouveränität und der Abwertung der Staatsbürgerschaft.

Nation und Bürger

In den letzten Jahrzehnten wurden antipopulistische Argumente, die die Weisheit und Kompetenz der Massen in Frage stellen, durch die Behauptung ergänzt, dass die Volkssouveränität ungesunden Ausdrucksformen des Nationalismus Auftrieb verschaffe. Seit den 1940er-Jahren wird kaum noch zwischen nationalistischen Einstellungen und den Ideologien unterschieden, die zum Aufstieg des Faschismus geführt haben. Stattdessen wird der Nationalismus, oder auch nur der Stolz auf die eigene Nation oder nationale Identität, oftmals als eine Form von Diskriminierung oder Vorurteilen hingestellt.

Nationale Identität als Zeichen von Fremdenfeindlichkeit zu sehen, erlaubt es Kritikern, im gleichen Atemzug auch die Volkssouveränität abzuwerten. So urteilt ein Kritiker der Volkssouveränität: „Schon ein kurzer Blick in die moderne Geschichte zeigt den wichtigen Zusammenhang zwischen Volkssouveränität und dem Aufstieg und der Ausbreitung des Nationalismus. Denn wo immer die Volkssouveränität hinführt, scheint der Nationalismus zu folgen.“ 7 Aus dieser Perspektive führt die Förderung der Volkssouveränität zu einer „Nationalisierung oder Kulturalisierung der Politik“, die angeblich die Unterdrückung von Minderheiten und Ausländern zur Folge hat.

„Die gegenwärtigen Attacken auf die Volkssouveränität sind eng mit der Verunglimpfung der nationalen Souveränität verknüpft.“

Die gegenwärtige antinationalistische Kritik der Volkssouveränität recycelt die alte Angst vor der Tyrannei der Mehrheit als Ausgrenzung einer Minderheit durch eine ethnisch oder kulturell andere Mehrheit. Die bekannten Klagen über das tyrannische Verhalten der Vielen wird durch die Behauptung angereichert, dass eine nationale Zugehörigkeit ausländerfeindlich und ausgrenzend mache. Deshalb sind die gegenwärtigen Attacken auf die Volkssouveränität eng mit der Verunglimpfung der nationalen Souveränität verknüpft.

Die Verbindung von ausschließenden Impulsen mit der nationalen Identität beruht auf der Überzeugung, dass es grundsätzlich falsch sei, den Bürgern einer Nation Rechte zu gewähren, die Nichtbürgern verweigert werden. Diese Sichtweise setzt den Ausschluss von Nichtstaatsangehörigen oder völlig Fremden vom Wahlrecht einer Diskriminierung aufgrund von Rasse, ethnischer Zugehörigkeit oder Religion weitgehend gleich. Einer Ansicht zufolge ist Staatsbürgerschaft willkürlich, da „keiner von uns seinen Geburtsort selbst ausgesucht hat und wir dafür weder Vor- noch Nachteile verdienen“ 8 .

Antipopulistische Argumente richten sich also nicht nur gegen das Volk, sondern auch gegen den Bürger. Populismuskritiker behaupten häufig, dass Menschen, die in einem bestimmten Nationalstaat leben, keine besonderen Rechte bezüglich des Gebietes haben sollten, in dem sie wohnen. Bürger und Ausländer sollten die gleichen Privilegien genießen. Der Historiker und politische Theoretiker Josiah Ober verwendet kosmopolitische Argumente und solche der globalen Gerechtigkeit gegen „staatliche Beschränkungen der Einwanderung und der Staatsbürgerschaftsrechte“. Diese betrachtet er als „inhärent illegitim“. 9 Solche Argumente zielen darauf ab, die Menschen, welche einen gemeinsamen geographischen Raum bewohnen, zu entnationalisieren und die Staatsbürgerschaft von jeglichen besonderen Rechten und Pflichten zu entleeren.

Die Philosophin Seyla Benhabib vertritt eine kosmopolitische Kritik der nationalen Staatsbürgerschaft. Sie ist der Auffassung, dass „jeder Einzelne gleichermaßen Anspruch auf moralische Achtung und Sorge hat. Der Kosmopolitismus betrachtet rechtlich gesehen jeden Einzelnen als eine juristische Person, die aufgrund ihrer moralischen Persönlichkeit und nicht aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft oder sonstigen Zugehörigkeit Anspruch auf den Schutz der grundlegenden Menschenrechte hat“. 10 So gesehen zählen Individuen und nicht das Volk. Ihre Rechte werden von einem transnationalen und humanitären Ethos garantiert, der offenbar den Status eines Staatsbürgers schlägt.

„Die Verfechter der Menschenrechte setzen sich für einen Abbau der Volks- und nationalen Souveränität ein und schwächen den Status der Staatsbürger.“

Die antipopulistische, transnationale Phantasie ist nicht nur volks-, sondern auch bürgerfeindlich. Sie delegitimiert die nationale Staatsbürgerschaft, indem sie eine globale und transnationale Menschheit idealisiert. In dieser werden jedem Einzelnen die gleichen Rechte und Privilegien gewährt. Wo Menschenrechte in den Mittelpunkt gestellt werden, werden die Rechte von Staatsbürgern sekundär. Deshalb sollten die Rechte der Staatsbürgerschaft aus einer transnationalen kosmopolitischen Perspektive keine Vorteile gegenüber den Rechten bieten, auf die alle Menschen Anspruch haben.

Oberflächlich betrachtet geht es bei den Menschenrechten um die Förderung und den Schutz des Rechts jedes einzelnen Menschen. Die Verfechter der Menschenrechte setzen sich jedoch gleichzeitig für einen Abbau der Volks- und nationalen Souveränität ein und schwächen den Status der Staatsbürger. Sie argumentieren ausdrücklich, dass ihre Gesetze die Unterscheidung zwischen Nationen und zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern aufheben. Die Soziologin Saskia Sassen erläutert dies wie folgt: „Die Menschenrechte sind im Gegensatz zu den politischen, sozialen und bürgerlichen Rechten, die auf der Unterscheidung zwischen nationalen und ausländischen Rechten beruhen, nicht von der Nationalität abhängig. Die Menschenrechte haben Vorrang vor solchen Unterschieden und können daher als potenzielle Infragestellung der staatlichen Souveränität und Abwertung der Staatsbürgerschaft betrachtet werden.“ 11

Sassen behauptet, dass mit dem Aufstieg der Menschenrechtsinstitutionen und -gesetze sowie der Zunahme der Masseneinwanderung „eine Verschiebung der Rechte des Einzelnen ungeachtet seiner Nationalität stattgefunden hat“. Sie fügt hinzu, dass „die Einwanderer durch die Anhäufung sozialer, staatsbürgerlicher und sogar einiger politischer Rechte in den Aufenthaltsländern den Sinn der Staatsbürgerschaft und die Besonderheit der Ansprüche, die die Bürger an den Staat stellen können, verwässert haben“. 12 Masseneinwanderung und die Rechte, die Menschenrechtskonventionen Migranten zuweisen, werden von kosmopolitischen Denkern als eine Kraft gesehen, die implizit die nationale Souveränität angreift.

Die Gemeinsamkeit der Staatsbürger

In Wirklichkeit entleert die kosmopolitische Entnationalisierung nicht nur die Staatsbürgerschaft ihres Sinns, sie raubt auch der Politik ihren eigentlichen Inhalt. Die Staatsbürgerschaft und ihre Ausübung sind von grundlegender Bedeutung für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft. Die Bürger besitzen elementare politische Rechte und haben auch Verantwortung und Pflichten gegenüber anderen Mitgliedern ihrer Gemeinschaft. Obwohl der Besitz der Staatsbürgerschaft durch Geburt willkürlich erscheinen mag, sollte er dennoch als Erbe betrachtet werden, das ein Bürger mit anderen teilt. Dieses gemeinsame Erbe unter den Angehörigen eines Nationalstaates bildet die Grundlage für Solidarität.

Darüber hinaus wird die Staatsangehörigkeit, die im Wesentlichen eine staatsbürgerliche Einrichtung ist, von allen geerbt, die hineingeboren sind, einschließlich der Kinder von Familien ehemaliger Einwanderer. Diese Identifikation mit der Nation hilft den – alten und neuen – Bürgern, ein Gefühl der generationsübergreifenden Kontinuität zu entwickeln. So entsteht nicht nur zu den eigenen Zeitgenossen eine Bindung, sondern auch zu den Vorfahren. Das ist es, was einer demokratischen Gesellschaft ein gewisses Bewusstsein verleiht. Es entwickelt sich ein tiefes Gemeinschaftsgefühl, das die Bürger trotz aller Unterschiede miteinander verbindet.

„Der Versuch der Deterritorialisierung von Souveränität und Bürgerschaft reduziert die Menschen auf ihre abstraktesten individuellen Qualitäten.“

Margaret Canovan warnte die Kritiker der nationalen Identität in diesem Zusammenhang: „Nationen sind nicht nur gemeinsame Welten; sie sind vererbte gemeinsame Welten, die von der Tatsache der Geburt und der Mythologie des Blutes getragen werden. […] Dieses Geburtselement der politischen Zugehörigkeit ist von entscheidender Bedeutung und wird regelmäßig von politischen Theoretikern vergessen, die sehr darauf bedacht sind, eine nicht-nationale Version von politischer Gemeinschaft zu empfehlen“. 13

Wie die politische Philosophin Hannah Arendt ausführte, verbindet das Erbe einer gemeinsamen Welt die Menschen so miteinander, dass sie sich untereinander und mit ihren öffentlichen Institutionen identifizieren können. Diese Bindung an andere versetzt die Bürger in die Lage, einen Sinn für Solidarität zu entwickeln und Verantwortung für das Wohlergehen und die Zukunft ihrer Gesellschaft zu übernehmen.

Kritik an der nationalen Souveränität und am Status der Staatsbürgerschaft wird oft durch die Berufung auf die Überlegenheit universeller und humanitärer Werte geübt. Universalismus verkommt jedoch zur Karikatur seiner selbst, wenn er sich in eine metaphysische Kraft verwandelt, die über den realen Institutionen steht, durch die Menschen die Welt begreifen. Der Versuch der Deterritorialisierung von Souveränität und Bürgerschaft reduziert die Menschen auf ihre abstraktesten individuellen Qualitäten. Zugleich werden ihnen alle für ihr Leben sinnstiftenden kulturellen Werte vorenthalten.

Territorium und Demokratie

Die Menschheit lebt nicht über oder jenseits der Grenzen und Institutionen, die sie mit großer Mühe und Anstrengung geschaffen hat. Deshalb bestand Arendt darauf, dass die „Rechte und Pflichten eines Bürgers nicht nur durch die seiner Mitbürger definiert und beschränkt werden, sondern auch durch die Grenzen eines Territoriums.“ Sie führte weiter aus: „Die Politik beschäftigt sich mit Menschen, Staatsangehörigen vieler Länder und Erben vieler Vergangenheiten; ihre Gesetze sind die akzeptierten Grenzen, die den Raum einhegen, schützen und begrenzen, in dem Freiheit kein Begriff, sondern lebendige politische Realität ist. Die Errichtung eines einzigen souveränen Weltstaates wäre alles andere als die Voraussetzung einer Weltbürgerschaft, sondern das Ende jeder Staatsbürgerschaft. Sie wäre nicht der Höhepunkt der Weltpolitik, sondern buchstäblich ihr Ende.“ 14

Ungeachtet der Motive der Befürworter stellt das Projekt der Deterritorialisierung der Staatsbürgerschaft und der Schwächung der nationalen Souveränität eine ernsthafte Bedrohung für die Demokratie und das öffentliche Leben dar. Was auch immer man von Nationalstaaten halten mag, es kann kein demokratisches öffentliches Leben außerhalb ihrer Grenzen geben. Nur wenn Bürger innerhalb einer geographisch begrenzten Einheit miteinander interagieren, kann demokratische Entscheidungsfindung funktionieren und bemerkenswerte Ergebnisse erzielen.

„Nur durch ihr Handeln als Bürger können souveräne Individuen ihr Schicksal beeinflussen.“

Engstirniger Nationalismus ist eine Geißel des öffentlichen Lebens. Aber die Identifikation mit Menschen, die in eine gemeinsame Welt hineingeboren wurden, ist die Hauptform, die der Solidarität zwischen den Menschen einen dynamischen politischen Charakter verleiht. Menschen, die ihre staatsbürgerlichen Rechte ausüben, haben Interessen, die ihrer spezifischen Situation entsprechen und die die Grundlage für ihre Solidarität bilden. Wenn man ihnen diese Interessen entzöge, würden sie unwissentlich den öffentlichen Raum zerstören, in dem sie als verantwortungsbewusste Bürger agieren können. Paradoxerweise bieten Nationalstaaten den besten Schutz für Flüchtlinge. Dort sind sich die Bürger ihrer Rolle sicher und können dadurch ihre Solidarität auch auf diejenigen jenseits der nationalen Grenzen ausdehnen.

Zweifellos bleibt das Verhältnis zwischen den Vielen und den Wenigen weiterhin eine Quelle erbitterter Kontroversen. Deshalb ist es so wichtig, den Einfluss der antipopulistischen Kultur in der westlichen Gesellschaft in Frage zu stellen. Der Ansatz der Volkssouveränität behält seine Bedeutung im Kampf um die Wiederaneignung demokratischer Werte. Das Engagement dafür erfordert keine unkritische Haltung gegenüber dem Volk. Um ein höheres Maß an Volkssouveränität zu erreichen, bedarf es vielmehr der Umwandlung des Volkes in verantwortungsbewusste Bürger. Nur durch ihr Handeln als Bürger können souveräne Individuen ihr Schicksal beeinflussen.

Wir sollten uns gewahr sein, dass wir heutzutage die Volkssouveränität nicht von der nationalen Souveränität trennen können. Der Gang des öffentlichen Lebens und die Entwicklung demokratischer Institutionen setzen eine Solidarität voraus, die zum Teil durch eine Identifikation mit der gemeinsamen Welt erworben wird, in die Mitglieder eines Gemeinwesens hineingeboren wurden. Im Gegensatz zum so genannten Weltbürger, dessen Verhältnis zu anderen rein biologischer Natur ist, teilen die Angehörigen eines nationalen Gemeinwesens ein politisches Schicksal. Nur ein souveränes Volk hat die Möglichkeit, die zukünftige Richtung einer gemeinsamen Welt beeinflussen.

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