06.06.2016

Neustart für den Libertarismus

Essay von Frank Furedi

Wer sich neue humanistische Politikansätze wünscht, muss damit anfangen, die Freiheit ernst zu nehmen.

Der Begriff „Libertarismus“ hat über die Jahrhunderte hinweg eine Vielzahl von Interpretationen erfahren. An einem Ende des politischen Spektrums wurde er mit rechtsgerichteten Anhängern des freien Marktes in Verbindung gebracht, am anderen Ende mit radikalen Anarchisten. Ende des 19. Jahrhunderts bezeichneten sich manche als libertäre Sozialisten oder sogar libertäre Kommunisten. Heute assoziiert man mit dem Begriff Libertarismus eine Ablehnende Haltung gegenüber dem Anwachsen staatlicher Interventionen ins soziale und ökonomische Leben.

Das Wort „Libertarismus“ wird aktuell oft als Schimpfwort gebraucht. Es gilt vielen als Synonym für Kaltherzigkeit und einer Politik im Dienste individueller Gier. Die Geschichte zeigt uns jedoch, dass libertäre Ideale der Kulminationspunkt einer langandauernden humanistischen Revolution von der Renaissance bis zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts sind.

Die Revolte gegen den Determinismus

Wer entscheidet die Geschicke des Einzelnen? Wie sehr wird unsere Zukunft durch den Gebrauch des freien Willens bestimmt? Das Schicksal der Menschheit war seit Anbeginn der Geschichte ein kontroverser Gegenstand. In der Antike waren verschiedene Gottheiten mit der Macht ausgestattet, die menschlichen Ambitionen zu durchkreuzen oder den Menschen ihre Gunst zu gewähren. So verehrten die Römer die Göttin Fortuna für ihre Gewalt über menschliche Angelegenheiten. Sie glaubten aber auch, wahrhaft tugendhafte Männer könnten sich ihrem Einfluss mehr oder weniger entziehen. Diese Ansicht spiegelt sich im lateinischen Sprichwort „das Glück ist mit den Mutigen“ wieder. Der Glaube, der Macht Fortunas könne durch menschliches Bestreben und den Gebrauch des freien Willens Einhalt geboten werden, ist eines der wichtigsten Vermächtnisse des Humanismus. Es ist dieser Glaube an das Vermögen der Menschen, Schmiede ihres eigenen Glücks zu sein, der in der Renaissance aufblühte und Menschen eine Welt erträumen ließ, in der sie sich Fortunas Gezeiten widersetzten.

„Die Geschichte zeigt, dass libertäre Ideale der Kumulationspunkt einer humanistischer Revolution sind“

Es dauerte noch etwas, bis sich der Gedanke verbreitete, dass das Schicksal des Einzelnen überhaupt nicht vorherbestimmt ist. Machiavelli versuchte die Verflechtungen zwischen Vorherbestimmtheit und freiem Willen zu entwirren. Er vertrat die Ansicht, dass vieles im Leben weder vorhergesehen noch unter Kontrolle des menschlichen Willens gebracht werden könne. Nichtsdestotrotz zog er den Schluss, dass die Hoffnungen der Menschen sich erübrigten. Und zwar nicht durch die Hand Fortunas, sondern durch das Versagen des Menschen, Risiken einzugehen und sich verändernden Umständen anzupassen. So stark Fortunas Kräfte auch seien, der freie Wille könne sie beschränken, manchmal sogar unterwerfen. Während der Renaissance weckte ein neuer Optimismus hinsichtlich der Fähigkeiten der Menschen, ihre Zukunft zu beeinflussen, die europäische Gesellschaft aus ihrem langen Winterschlaf. Der Historiker Quentin Skinner bemerkte, dass eine wichtige Form dieses Optimismus die humanistische Betonung des Konzepts des freien Willens war.1

Der graduelle Rückgang einer fatalistischen religiösen Doktrin, beispielsweise durch die protestantische Reformation, hatte nicht zur Folge, dass deterministische Philosophien ihren Einfluss verloren. Im 17. und 18. Jahrhundert waren säkulare Lehren über eine mechanische Kausalität und Naturdeterminismen auf dem Vormarsch. Auch als Reaktion auf solche Tendenzen bildete sich der Libertarismus als distinktive politische Orientierung heraus. Als Antwort auf die religiösen, intellektuellen, ökonomischen und politischen Beschränkungen der alten Ordnung traten radikale Ideen der Freiheit in den Vordergrund. Gestützt wurde dieser Ruf nach Freiheit durch die Überzeugung, der Einzelne sei in der Lage, sich seines freien Willens zu bedienen. Die Idee der Freiheit war untrennbar mit der Vorstellung verbunden, jeder könne selbst über seine Zukunft bestimmen.

In seinen frühen Tagen zelebrierte der Libertarismus das Prinzip des freien Willens. Denn im Gegensatz zu den religiösen Prädestinationsdoktrinen und fatalistischen Philosophien mechanischer Kausalität liegt die Betonung des Libertarismus auf Selbstbestimmung. Der philosophische Gegenpol dieser Position nannte sich Nezessitarismus. Das Wesen dieser Doktrin lag in der Überzeugung, jede menschliche Handlung sei notwendigerweise durch die Gesetze der Kausalität determiniert. So beruhte der Konflikt zwischen Libertarismus und Nezessitarismus auf den grundlegend verschiedenen Positionen bezüglich Determination und Selbstbestimmung. Das besondere Prinzip, auf dem der Libertarismus beruht, ist das der Autonomie: ein Ideal, welches sich grundlegend antithetisch zu den unterschiedlichen Determinismen der Moderne verhält.

Autonomie bedeutet, dass Personen als aktive, vernünftige und bewusste Individuen mit der Welt interagieren. Die Etymologie dieses Wortes verrät uns so einiges: autos, das Selbst, und nomos, die Regel – selbst-reguliert. Der Begriff findet sich das erste Mal in den griechischen Stadtstaaten. Einer Darstellung zufolge erlangte eine Stadt Autonomie, wenn ihre Bürger ihre eigenen Gesetze machten und nicht einer Eroberungsmacht unterlagen. 2 Einer autonomen Person wird eine moralische Unabhängigkeit und Verantwortung unterstellt. 3 Durch den Gebrauch der Autonomie entwickeln Individuen Persönlichkeit und übernehmen Verantwortung für sich selbst. Die Kultivierung moralischer Unabhängigkeit verlangt vom Menschen, dass er seine eigenen Schlüsse zieht und sich seine eigene Meinung bildet.

„Eine Armee von Philosophen und Ideologen begehrte im 19 Jahrhundert gegen die Idee des freien Willens auf“

Das Ancien Régime, welches durch seine Institutionen Sitten und Traditionen verteidigte, betrachtete Liberalismus und seine Ideale des freien Willens, der Autonomie und der Selbstbestimmung als Pervertierung der natürlichen Ordnung. Aber nicht nur Traditionalisten diskreditierten die Prinzipien des freien Willens und der individuellen Rechte. Eine wahrhaftige Armee von Philosophen und Ideologen begehrte im 19. Jahrhundert gegen die Idee des freien Willens auf und ersetzte diese durch eine ganze Reihe neuer Doktrinen des Determinismus. Konservative wie Edmund Burke argumentierten, die Handlungen des Einzelnen seien durch das Vermächtnis der Vergangenheit eingeschränkt. Mit diesem Geschichtsdeterminismus sollte explizit die „Arroganz“ der Individualisten untergraben werden.

Andere argumentierten für andere Formen des Determinismus. Großer Beliebtheit erfreute sich im 19. Jahrhundert der Determinismus der natürlichen Selektion. Ihm zufolge war der freie Wille Unfug, da Menschen Gefangene ihrer eigenen Biologie seien. Andere sprachen vom kulturellen Determinismus, also der Idee, dass der menschliche Wille durch seinen kulturellen Hintergrund geprägt sei. Und schließlich vom ökonomischen und sozialen Determinismus: demnach haben soziale Normen und ökonomische Realitäten einen derartig starken Einfluss auf das menschliche Leben, dass Selbstbestimmung zur Illusion verkomme.

In gleichem Maße vermittelten diese Determinismen den Gedanken, der Mensch könne seine Interessen nicht selbst realisieren. Durch sie wurden die Expansion des Staates und die Verabschiedung paternalistischer Gesetze gerechtfertigt. Der Staat wurde als Institution dargestellt, mit deren Hilfe die „Exzesse“ und „Grenzen“ individuellen menschlichen Handelns korrigiert werden könnten.

Spannungen im Libertarismus

In der Geschichte beanspruchte eine ganze Reihe von Bewegungen den Libertarismus für sich. Im 19. Jahrhundert wurden klassische Liberale als „Libertäre“ bezeichnet. Das gleiche galt oft für Anarchisten, Sozialisten und Kommunisten am anderen Ende des ideologischen Spektrums. Gegnern der Sklaverei und später den Suffragetten haftete ein ähnliches Etikett an. Wenn uns heute der Libertarismus als gängiges rechtes Dogma präsentiert wird, lohnt es, sich zu vergegenwärtigen, welche Rolle er in den politischen Diskursen der 1960er spielte.

Die Frage nach der richtigen Haltung gegenüber Markt und Privatbesitz spaltete linke und rechte Libertäre. Liberal-Libertäre sahen im Privateigentum stets den Schlüssel zur Realisierung individueller Freiheiten. Im Gegensatz dazu stellten libertäre Anarchisten und Sozialisten Privateigentum in Frage, da es dem Arbeiter die Freiheit nehme, unabhängig zu arbeiten.

„Thomas Paine erkannte, dass individuelle Freiheit und die Souveränität der Bürger untrennbar miteinander verbunden sind“

Linke wie rechte Libertäre einte eine gemeinsame Skepsis gegenüber staatlichen Aktivitäten; Fragen nach privatem Besitz und freiem Markt entzweiten sie. Tatsächlich existieren noch weitere Spannungen innerhalb des Libertarismus, welche kaum oder wenig Beachtung finden: Betroffen sind Streitfragen rund um Demokratie und Souveränität. Einige liberale Vordenker, wie beispielsweise der britische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill, hatten eine zumindest ambivalente Haltung gegenüber dem Thema Massendemokratie. So wurde befürchtet, diese könnte zu Konformismus anregen und den Einzelnen daran hindern, seine Autonomie inmitten der Masse zu entfalten. Andere, wie Thomas Paine, erkannten jedoch, dass individuelle Freiheit und die Souveränität der Bürger untrennbar miteinander verbunden sind.

Die Streitfragen hinsichtlich Demokratie und Souveränität des Einzelnen sind weitaus grundlegender als es die Differenzen über die Rolle des Marktes sind, da sie die Autonomie ansprechen. Denn nur Autonomie kann die einzig wahre Grundlage sein, auf der ein Libertarismus im 21. Jahrhundert erblühen und gedeihen kann. Indem er sich auf sein humanistisches Vermächtnis rückbesinnt und die deterministischen Doktrinen der Gegenwart in Frage stellt, kann der Libertarismus sich heute selbst neues Leben einhauchen.

Libertarismus muss konsistent sein

Vom 19. Jahrhundert ausgehend konnten wir in vergangenen Jahrzehnten den Aufstieg antihumanistischer Denktraditionen beobachten, die menschlicher Selbstbestimmung feindlich gegenüber stehen. Zeitgleich haben staatliche Einflussnahmen auf das wirtschaftliche Leben versucht, die Freiheit des Marktes zu untergraben. Seit dem letzten Jahrhundert bis zum heutigen Tage hat der Staat seine Einmischung in das Leben des Einzelnen bis in dessen Privatsphäre ausgeweitet.

Die stetige Expansion staatlicher Interventionen in alle erdenklichen Bereiche menschlichen Lebens bestärkte die Opposition Liberaler und Libertärer. Diese Reaktion zeigte sich jedoch oft als inkonsistent und beschränkte sich auf die Kritik an staatlicher Bevormundung. So reagierten linke Libertäre in den 1960ern auf die zahlreichen legalen wie informellen Einschränkungen persönlicher Freiheiten. Hinsichtlich anderer staatlicher Eingriffe in das soziale und wirtschaftliche Leben schwiegen sie jedoch. Seit den 1970ern wird das Anliegen, den Markt vom Staat zu lösen, mit einer eher rechten Variante wirtschaftlichen Libertarismus assoziiert. Wenn es um die Kritik an staatlicher Einmischung in die Privatsphäre geht, haben sich Vertreter einer solchen Spielart als überaus zurückhaltend präsentiert.

„Der Libertarismus ist humanistisch und der Humanismus libertär“

Dass der Libertarismus sich nicht den Einfluss erkämpfen konnte, den er verdient, liegt auch daran, dass er den Zugang zu einigen seiner Schlüsseleigenschaften verloren hat – wie etwa den Topos des freien Willens und der Persönlichkeitsrechte. Zu oft haben sich Libertäre unbeabsichtigt auf den Feldern bewegt, die längst von ihren deterministischen Kontrahenten besetzt waren. Beispielsweise haben Advokaten des freien Marktes das thatcheristische Diktum der Alternativlosigkeit befürwortet („There is no alternative“). Ohne Alternative wird die Idee des freien Willens und der Selbstbestimmung zur leeren Phrase. Diese Alternativlosigkeit, die selbst eine Form des Determinismus verkörpert, verhält sich antithetisch zu den Prinzipien individueller Autonomie. Die libertären Pioniere selbst erklärten kühn, dass es in jedem Fall eine Alternative zur alten Ordnung gebe. Libertäre Vordenker wie Paine priesen ein Konzept der Freiheit an, das die Gedanken der individuellen Rechte und der Souveränität bekräftigte. So basiert der liberale Widerspruch gegen den paternalistischen Staat auf dem Bekenntnis zu Demokratie und Selbstbestimmung.

Das Prinzip der Selbstbestimmung bleibt für den libertären Humanismus fundamental. Das Vermögen der Autonomie ist eines der wichtigsten Eigenschaften des Menschen. Aus diesem Grund ist der Libertarismus humanistisch und der Humanismus libertär. Denn Libertarismus vertraut auf den Menschen und sein Potential und bekräftigt die, die glauben, ihr Handeln könne wirklich etwas verändern. Aber um dieses Potential wahrlich auszuschöpfen, müssen Libertäre Argumente entwickeln, die ihren Idealen von Freiheit und Autonomie gerecht werden.

Menschliches Handeln hat oft unerwartete Folgen. Auch solche, mit denen man nur schwer leben kann. Nichtsdestotrotz bietet das Ideal der Autonomie dem Menschen die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, und es resultiert nicht selten in Fortschritt. In der Geschichte waren es diejenigen, die Autonome ernst genommen haben, die repressive Institutionen und Willkürherrschaft erfolgreich herausgefordert haben. Um die bestmöglichen Bedingungen für die menschliche Entwicklung zu garantieren, sollte sich eine aufgeklärte Gesellschaft dem Ideal individueller Autonomie verschreiben. Gesellschaften, denen das nicht gelingt, werden letztlich von einer fatalistischen Kultur bestimmt und riskieren, in Stillstand zu verfallen.

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