18.03.2024

Lernen nach Noten

Von Jörg Michael Neubert

Titelbild

Foto: Wokandapix via Pixabay / CC0

Der Vorschlag, Schulnoten abzuschaffen, löst keine Probleme im Bildungswesen. Im Gegenteil, denn Noten können leistungssteigernd wirken und tragen zu mehr Klarheit bei.

Todgesagte leben bekanntlich länger. Daher verwundert es nicht, dass die Partei die Linke letztes Jahr einen Vorschlag in die ständig schwelende Bildungsdebatte eingebracht hat, den manche schon als längst beerdigt betrachtet ansahen. Dass eine Diskussion über Schulbildung grundsätzlich geführt werden sollte, legen z.B. die Ergebnisse einer Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) nahe. So erreichen 33 bzw. 34 Prozent der untersuchten Neuntklässler nicht den Mindeststandard im Fach Deutsch für die Bereiche Lese- bzw. Hörverständnis. Die aktuelle Pisa-Studie kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Zurückgeführt wird diese Entwicklung auf die pandemiebedingten Schulschließungen, den gestiegenen Ausländeranteil bei den Schülern sowie ein generell geringeres Interesse am Fach Deutsch bei ihnen. Angesichts solcher Zahlen tröstet es nicht, dass sich vor allem das Hörverständnis im Fach Englisch dagegen deutlich verbessert hat.

Wie will sich die Linkspartei jetzt gegen diesen seit vielen Jahren bekannten Trend stemmen? Sie will ganz einfach die Noten und bei dieser Gelegenheit die Hausaufgaben gleich mit abschaffen. Nun geistert dieser Vorschlag wie ein Untoter, der immer wieder zum Leben erwacht, schon lange durch die Bildungsdebatte, dürfte aber schon an der Bildungshoheit der Länder scheitern, da er wohl ohne eine bundeseinheitliche Regelung nicht realisierbar wäre. Man denke nur daran, wie z.B. der Numerus clausus beim Hochschulzugang für Schüler aus einem Bundesland ohne Noten geregelt werden sollte. Trotz dieser offensichtlichen Probleme ist das Konzept aber nicht totzukriegen und so will z.B. Sachsen die Empfehlung einer Expertenkommission zur Abschaffung der Noten zumindest ab 2024/25 prüfen, auch wenn die Aussichten auf Erfolg eher als gering einzustufen sind. Dass das in diesem Bundesland überhaupt geprüft wird, ist umso erstaunlicher, da Sachsen in oben genannter Studie zusammen mit Bayern relativ gut abgeschnitten hat.

Sehen uns die Funktion von Noten sowie die Kritik an ihnen ein wenig genauer an. Was ist überhaupt eine Note? Formal gesagt, ist eine Note eine Rückmeldung über die eigene Leistung im Vergleich zu einer Referenzgruppe. In diesem Fall also andere Schüler der eigenen Klasse bzw. Jahrgangsstufe. Aus diesem Grund sind Noten bei eher gleichheitsorientiert eingestellten Menschen auch so unbeliebt. Sie machen nämlich Unterschiede sichtbar. Was vorher jeder wusste, dass z.B. Schüler A bereits in der Mittelstufe journalistisch anspruchsvolle Texte schreibt, während Schüler B nicht über das Niveau eines Comichefts hinauskommt, ist jetzt schwarz auf weiß verfügbar.

Noten senden damit ein Signal in mehrere Richtungen. Zum einen an Dritte, also nach außen. Sie dokumentieren, dass der Schüler offenbar halbwegs fähig und fleißig ist, denn ansonsten hätte er wohl keine gute Note erreicht. Oder umgekehrt: Er ist weniger fähig oder zumindest stinkfaul, wenn die Note schlecht ausfällt. Sie senden aber auch ein Signal an den Schüler selbst. Die Note gibt nämlich ein zeitnahes Feedback darüber, ob seine vorausgegangenen Investitionen in Lernen, Üben etc. von Erfolg gekrönt waren oder eben nicht.

„Ein gewisser Druck, sich zu beweisen, ist nötig, damit Sie eine wirklich gute Leistung erzielen.“

Nun wenden Kritiker von Noten gerne ein, dass diese Vergleichs- und Feedbackfunktionen gerade das Problem von Noten sind. Sie würden Schüler unnötig unter Druck setzen, bessere Noten zu bekommen. Doch was wäre die Alternative? Eine Teilnahmebestätigung? Ein individuelles schriftliches Feedback? Wer so etwas fordert, verkennt eine grundsätzlichen Zweck von Noten. Sie sollen einen gewissen Druck erzeugen. Oder wie im angelsächsischen Raum gerne in anderen Zusammenhang gesagt wird: „Its not a bug, ist a feature“.

Denn mal Hand aufs Herz: Wenn Sie eine Prüfung ablegen müssten und als Ergebnis ein schriftliches Feedback erhalten, in dem z.B. steht, dass Sie den geprüften Stoff gut verstanden haben, was ist ihre erste Frage? Genau: „Was bedeutet das als Note?“. Und wo wir schon dabei sind: Würden Sie sich ohne Noten genau so anstrengen wie mit? Wenn Sie wirklich ehrlich mit sich selbst sind, wird die Antwort wahrscheinlich Nein lauten. Ein gewisser Druck, sich zu beweisen, ist nötig, damit Sie eine wirklich gute Leistung erzielen. Die Psychologie spricht in diesem Zusammenhang von „gutem“ oder Eustress. Das Gegenteil wäre Disstress und auf den zielt oben genannte Kritik vermutlich ab. Es soll hier auch nicht geleugnet werden, dass Noten ein Auslöser für Disstress sein können. Es sei aber gesagt, dass es einen gewaltigen Unterschied zwischen dem Ziel, eine gute Note zu erreichen, gibt und dem, überall und immer nur Bestleistungen zu erzielen. Hier liegt der Fehler auch nicht bei den Noten, sondern in einer falschen Motivation des Schülers und/oder der Eltern.

Manche Kritiker des Notensystems gehen aber noch weiter und lehnen Noten schon aus dem Grund ab, dass Sie ein externer Motivator sind, also von außen vorgegeben werden. In diesem Zusammenhang wird gerne damit argumentiert, dass Kinder mehr intrinsische Motivation entwickeln sollen, als die durch Noten extrinsisch vorgegeben zu bekommen. Das klingt erstmal gut und die positive Wirkung intrinsischer Motivation ist unbestritten. Allerdings stellt sich schon die Frage, wie es Lehrer schaffen sollen, dieses bei jedem einzelnen Kind für jedes Fach zu erwecken. Und was passiert, wenn ein Kind z.B. partout keine Lust hat, Mathematik zu lernen? Spätestens bei Eintritt ins Berufsleben wird sich das Kind vermutlich wünschen, ein wenig besser aufgepasst zu haben – doch dann dürfte es zu spät sein.

„Noten motivieren (zumindest im Allgemeinen) dazu, sich anzustrengen, um so seine Leistung und damit auch sein Verständnis vom Lehrstoff zu verbessern.“

Außerdem wird es spätestens hier mit dem höchst extrinsischen Faktor konfrontiert sein, dass es Geld für seinen Lebensunterhalt verdienen muss. Um nicht falsch verstanden zu werden: Hier soll in keiner Weise gegen intrinsische Motivation an sich argumentiert werden. Wenn Kinder etwas aus Freude und Lust am Lernen heraus machen ist das zu respektieren und zu fördern. Doch zu glauben, dass man eine derartige Motivation einfach per pädagogischer „Zauberhand“ erwecken kann, ist schon etwas blauäugig.  Auch wenn Noten also extrinsische Motivation darstellen und sicherlich auch einen gewissen Druck auf Kinder aufbauen, sind sie sinnvoll. Denn sie motivieren (zumindest im Allgemeinen) dazu, sich anzustrengen, um so seine Leistung und damit auch sein Verständnis vom Lehrstoff zu verbessern. Im Erfolgsfall belohnen Noten auch intrinsisch motivierte Leistungen.

Ein weiterer Punkt, der gerne gegen Noten in Stellung gebracht wird, ist, dass sie subjektiv seien und eigentlich nur messen, ob jemand gut auswendig lernen kann. Eine andere Variante dieser Kritik ist noch, dass durch Noten nur die fachliche Beherrschung eines Themengebiets, nicht aber die soziale Kompetenz und/oder praktische Fähigkeiten gemessen werden. Zum ersten Punkt sei gleich gefragt, inwieweit andere Arten der Rückmeldung denn weniger subjektiv sind. Hundertprozent objektiv wäre wohl nur eine reine Teilnahmebescheinigung. Schüler XYZ hat an Prüfung A teilgenommen. Das ist zu 100 Prozent neutral und zu 0 Prozent aussagekräftig.

Der zweite Punkt bezüglich des Auswendiglernens ist bei näherem Hinsehen auch kaum zu halten. Natürlich müssen bei allen Fächern Fakten auswendig gelernt werden. Wenn man z.B. eine Fremdsprache lernt, wird man nicht umhin kommen, Vokabeln und grammatische Strukturen zu pauken. Aber das ist immer nur der Grundstock. Jeder, der einmal versucht hat einen ansprechenden Text in einer Fremdsprache zu verfassen, ein Gedicht zu analysieren oder ein mathematisches Problem zu lösen, wird bestätigen können, dass man in der Lage sein muss, dieses Wissen auch konkret anzuwenden. Und genau darum geht es ja auch beim Lernen: sich Wissen anzueignen und dieses dann auf reale „Probleme“ zu übertragen.

Unbenommen davon bleibt die berechtigte Kritik, dass es in manchen Lehrplänen für allgemeinbildende Schulen an „praktischen“ Fächern, die die Schüler auf das reale Leben vorbereiten, fehlt. In einigen südlichen Bundesländern wird das z.B. mit der Einführung eines Fachs Wirtschaft bereits angegangen. Der Punkt bezüglich der sozialen Kompetenz ist schon etwas beachtenswerter. Keiner will, dass Schulen und später auch Hochschulen reine „Fachidioten“ ausbilden. Wobei es zur Wahrheit gehört, dass unsere moderne Arbeitswelt immer mehr Spezialisten und weniger Generalisten benötigt. Nicht umsonst spricht man ja auch vom Fachkräftemangel.

„Noten sind nicht der Weisheit letzter Schluss, aber deutlich besser als ihr Ruf.“

Nichtsdestotrotz sind soziale Fähigkeiten weiterhin eine gefragte Fähigkeit. Und viele Stellenanzeigen fragen nach sogenannten „Soft Skills“ wie Einfühlungsvermögen, Teamfähigkeit oder auch Entscheidungsfähigkeit. Tragen Noten nun dazu bei, dass wir Schüler zu „Nerds“ ausbilden? Nur im Kopf, aber nicht im Herzen gebildet? Das ist zumindest zweifelhaft. Denn eine gute Note bedeutet mehr, als sich einfach nur Dinge gut merken zu können. Sie bedeutet auch, dass der Schüler in der Lage ist, sich selbst zu motivieren, sich Ziele zu setzen und diese strukturiert zu erreichen. Durch gemeinsame Projekte mit Klassenkameraden etc. kommt auch die Teamfähigkeit nicht zwangsläufig zu kurz. Und genau das sind Fähigkeiten, die er im späteren Berufsleben benötigen wird. Auch hier wird er nämlich mit externen Motivatoren konfrontiert werden (einzuhaltende Deadlines, abzuschließende Projekte etc.). Wer bereits in jungen Jahren eingeübt hat, sich mit einer derartigen Umwelt zu arrangieren, wird sich deutlich leichter tun als jemand, der nur unverbindliches Feedback oder eine Teilnahmebestätigung erhalten hat. Eine permanente Schlechtleistung wird im Berufsleben nämlich weitreichendere Konsequenzen als ‚nur‘ negatives Feedback nach sich ziehen.

Noten sind nicht der Weisheit letzter Schluss, aber deutlich besser als ihr Ruf. Betrachtet man Noten, insbesondere im Zeitverlauf, dann konzentrieren sie eine ganze Reihe von Informationen in einer Zahl. Wie wir gesehen haben, dokumentieren sie nicht nur intellektuelle Leistungsfähigkeit, sondern auch die Bereitschaft und Fähigkeit eines Schülers, sich Ziele zu setzten und dieser durch Anstrengung zu erreichen.

Natürlich könnte man diese Informationen auch in langen textlichen Erklärungen unterbringen. Diese würden zugegebenermaßen differenziertere Aussage ermöglichen, brächten aber auch zwei Probleme mit sich. Zum einen sind sie lang und damit umständlich. Zweitens besteht bei sprachlichen Bewertungen immer das Problem der Missverständlichkeit. Um dieses zu umgehen, müssten einheitliche Sprachsätze eingeführt werden. Das wären dann aber sozusagen „Noten durch die Hintertür“, da jeder fixe Satz einer Leistungseinstufung entspräche. Dann kann man auch gleich bei Noten bleiben, die zeigen zudem auf den ersten Blick, was Sache ist.

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