31.01.2024

Egoist oder Sklave

Von Max Remke

Titelbild

Foto: Ronile via Pixabay (CC0)

Der Kapitalismus steht unter Beschuss. Der Vorwurf: In ihm dominiere das persönliche Eigeninteresse. „Gut so!“, meinte die Philosophin Ayn Rand und stellte die Grundfesten unserer Moral in Frage.

Der Kapitalismus, gerade in seiner unregulierten Form, hat keinen guten Ruf. Grüne verachten ihn für sein unerschütterliches Wachstum und seine Fähigkeit, Wälder und Sümpfe in Großstädte zu verwandeln, Konservative für seine Neigung, durch Innovation die etablierte Ordnung zu zertrümmern, Religiöse für seinen verführerischen Materialismus und Linke für seine angebliche Ungerechtigkeit. Und alle auf einmal kritisieren ihn moralisch – als System, das auf Profit, auf Eigeninteresse aufbaut und nicht auf selbstlosem Dienst am sogenannten Gemeinwohl. Vom traditionellen „Best of“ einer positiven Utopie scheint das System der radikalen Freiheit und des Privateigentums weit entfernt.

Und doch gibt es eine Philosophin, die sich entschieden gegen dieses konventionelle Bild einer besseren Welt stellt. Ayn Rands Utopia besticht nicht durch Gemeinschaft, sondern durch Privatheit, nicht durch Naturverbundenheit, sondern durch Technikliebe, nicht durch Selbstlosigkeit, sondern durch Eigeninteresse. Zeit, einen Blick auf die zeitgeistferne, selbsterklärte „radikale Kapitalistin“ zu werfen.

Akt 1 – Linie: St. Petersburg - New York

New Yorks Skyline ist am 19. Februar 1926 hinter einer Nebelwand verborgen. Die Silhouetten der Wolkenkratzer sind nicht ausmachen, die Freiheitsstatue ein unnahbarer Umriss hinter dichtem Grau. Und doch ist dieser neblige Tag für Alissa Rosenbaum, die sich bald nur noch Ayn Rand nennen wird, eine unvergessliche Wende. Die junge Frau an Bord des Linienschiffs De Grasse stammt aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie und ist noch gezeichnet von Seekrankheit. Sie weiß, dass sie ihre russische Heimatstadt St. Petersburg – die jetzt unter den Kommunisten Leningrad heißt – wohl nie mehr wiedersehen wird. Doch trotz alldem hat sie das tiefe Gefühl, nun in ihrer Welt angekommen zu sein. Denn die USA sind für sie eine Verheißung und New Yorks auf der Welt einzigartige Wolkenkratzer-Skyline ihr Symbol.

Im Jahr 1943 wird sie in dieser Stadt auch ihren ersten Bestseller „Der Ursprung“ spielen lassen. Die Hauptfigur des philosophischen Romans, ein kompromissloser Architekt und vor allem radikaler Individualist namens Howard Roark. Alles in dieser Figur stellt das eigene Leben in den Mittelpunkt: Welches Urteil ist wichtig? Nur das eigene Urteil. Wer gibt meinem Leben Sinn? Ich selbst durch meine Arbeit, die meinem Urteil Ausdruck verleiht. Wer ist für mein Leben, ja auch Überleben, verantwortlich? Nur ich selbst. Für wessen Wohl lebe ich? Nur für mein eigenes. Wer erlaubt es mir? Das ist die falsche Frage, die richtige lautet: Wer wird mich aufhalten?

„Ayn Rand hält Altruismus für eine im Kern unlebbare Philosophie, deren Ideal das Nichtleben ist – entweder in Form des Heldentodes für das Kollektiv oder als Sklavenleben im Dienst der anderen.“

Ayn Rand ist in ihrer Betonung der Existenz für sich selbst und durch sich selbst unerbittlich und lässt daneben keine Instanz, gleich ob Klasse, Rasse oder Gottheit, gelten. In ihrer Novelle „Hymne“, welche in einem religiös-primitivistischen Dystopia spielt, lässt sie den rebellischen Protagonisten erkennen: „Und jetzt sehe ich das Angesicht Gottes und ich erhebe diesen Gott über die Welt. Diesen Gott, den die Menschen suchen, seit sie den ersten Fuß auf diese Erde gesetzt haben. Diesen Gott, der ihnen Glück, Frieden und Stolz gewährt. Dieser Gott, dieses eine Wort: Ich.“ Damit bricht Ayn Rand gleichzeitig mit allen großen weltanschaulichen Richtungen des 20. Jahrhunderts, egal ob Christentum, Islam, Kommunismus, Faschismus oder modernem Utilitarismus. Sie tut dies, indem sie mit der moralischen Grundlage all dieser Ideologien bricht: dem Altruismus.

Akt 2 – Der Wert des Eigeninteresses

Der Altruismus, also die ethische Grundhaltung, dass eine Handlung umso moralischer sei, je weniger man selbst von ihr hat, ist omnipräsent in unserer Kultur. Wir loben die „aufopferungsvolle Mutter“, die „selbstlose Liebe“, die „uneigennützige Spende“, pilgern zu Stätten christlicher Heiliger, die aufopferungsvoll den Märtyrertod gestorben sind oder lesen in den Nachrichten von Islamisten, welche für ihren Gott das höchste Opfer, ihr Leben, darbringen. Wir sagen, der Kommunismus sei „in der Theorie“ ein gutes System, weil in ihm alle selbstlos füreinander sorgen – und wir regen uns beständig über „egoistische“ und „selbstsüchtige“ Menschen auf, die den selbstlosen Ansprüchen des Altruismus nicht genügen. Egal ob Jesus, Kant oder Lenin – im Altruismus als Ideal findet die Welt zusammen, mag sie sich auch noch so erbittert darüber bekriegen, für wen genau es sich selbstlos zu opfern gilt.

Ayn Rand aber verwirft das selbstlose Menschenopfer als Ideal. Sie hält Altruismus für eine im Kern unlebbare Philosophie, deren Ideal das Nichtleben ist – entweder in Form des Heldentodes für das Kollektiv oder als Sklavenleben im Dienst der anderen. Gerade deshalb gilt ihre Liebe dem Kapitalismus, denn dieser basiert auf dem freiwilligen Tausch „Wert gegen Wert“ zum gegenseitigen Vorteil und nicht auf dem selbstlosen Opfer. In einer freien, unregulierten Ordnung individueller Eigentumsrechte wird nur reich, wer seinen Mitmenschen eine Verbesserung ihres Lebens durch Güter und Dienstleistungen anbietet, wer also an ihr Eigeninteresse appelliert.

„Ayn Rand geht von einer objektiven Realität und einem objektiven Wesen des Menschen aus.“

Dem entgegengesetzt steht der Staat als umverteilende Instanz. Er basiert eben nicht auf der Freiwilligkeit des Individuums, sondern auf kollektiver Gewalt und er verteilt nicht nach dem Prinzip des Gegenwertes, sondern nach der Logik des Altruismus. Faulheit, mangelnde Produktivität und Unwillen zur Weiterentwicklung – also die Unfähigkeit, seinen Mitmenschen einen Gegenwert zu bieten – sind die Grundlage des modernen Sozialstaates. Wer gut wirtschaftet, produktiv Mehrwert schafft und vielleicht sogar als Unternehmer ins persönliche Risiko geht, wird geplündert für all jene, die nichts produzieren, kein Risiko eingehen und schlecht wirtschaften. Darin erkennt Ayn Rand ein System, dass Untugend belohnt, tugendhaftes Leben bestraft und das einzige Recht eines Menschen, das Recht auf sein eigenes Leben und damit auch sein eigenes Eigentum, bestreitet.

Akt 3 – Going Galt

Es ist dieser Kampf um das Recht des Individuums gegen die Ansprüche des Kollektivs, der sich wie ein roter Faden durch ihr gesamtes Werk zieht. Sie greift ihn erneut, diesmal politischer, in ihrem Magnum Opus und letztem fiktionalen Text „Der freie Mensch“ auf. In dem episch angelegten Roman von 1957 geht es um einen Streik. Doch nicht die Arbeiter oder Angestellten streiken, sondern die besten und schlausten Köpfe: Die großen Unternehmer, die Erfinder, die Wissenschaftler. Es sind jene Produktiven, die, wie der mystische Titan Atlas, die Welt auf ihren Schultern tragen – daher auch der englische Titel „Atlas Shrugged“.

Das über tausend Seiten starke Buch wird sofort ein Bestseller und findet sogar Eingang in die Alltagssprache. So heißt im englischen „going Galt“ – nach der Romanfigur John Galt – so viel wie: nicht mehr zu einer unmoralischen Gesellschaft und einem umverteilenden Staat durch eigene Arbeit beitragen, bspw. durch ein Aussteiger-Leben ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Ansprüche und Erwartungshaltungen.

Ende der 1950er erhält Ayn Rands Philosophie dann auch einen offiziellen Namen: Objektivismus. Dieser verweist auf den erkenntnisphilosophischen Unterbau ihrer individualistischen Philosophie. Ayn Rand geht von einer objektiven Realität und einem objektiven Wesen des Menschen aus. Dieser hebt sich durch seine Rationalität und damit durch seine Fähigkeit zur komplexen Produktion grundsätzlich von allen anderen Tieren ab. Mehr noch, er kann nur durch bewusstes Denken und Herstellen überleben. Ein automatisches Überlebensprogramm hat er eben nicht, stattdessen muss er Werte durch Naturbetrachtung und bewusstes Nachdenken erkennen und sie verfolgen.

„Ayn Rand ist einzigartig, da sie dem Kapitalismus eine Utopie gegeben hat, eine ideale Gesellschaft der aufgeklärten Egoisten entworfen hat.“

Aus diesem Wesen des Menschen folgert Ayn Rand auch eine kompromisslose Liebe zur menschlichen und industriellen Produktion, zur Technologie und Weiterentwicklung. Kampf gegen die Widrigkeiten der Natur, gegen Kälte, Lebensfeindlichkeit, wilde Tiere und unfruchtbare Böden bedeutet heroische Taten für das menschliche Überleben und Wohlergehen. Für die aufkommende ökologische Bewegung mit ihrer Feindschaft zu Städten, Fabriken und menschlicher Naturbändigung hat Ayn Rand kein Verständnis und fordert ihre Leser in ihrem 1971 erschienen Essayband „Zurück in die Steinzeit“ auf: „Jeder der heute älter als 30 Jahre ist [die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA vor der Industrialisierung], sollte still dem nächstliegenden, schmutzigsten, rußigsten und düstersten Schornstein danken, den er finden kann.“

Epilog – Die Umkehrung der Frage

Der überragender Einfluss Ayn Rands ist gerade in den Innovationszentren dieser Welt, wie dem Silicon Valley, noch heute – über 40 Jahre nach ihrem Tod – zu spüren. Auch viele US-Konservative und Libertäre berufen sich, allerdings oft oberflächlich, auf ihre Schriften. Gerade ihre Romane „Der Ursprung“ und „Der freie Mensch“ stehen im Ruf, das Leben ihrer Leser völlig verändern zu können. Rands radikaler Individualismus, ihre Liebe zum Menschen als Naturbezwinger, ihre schroffe Zurückweisung jeden Selbstopfers, rufen auch heute die gleiche bewundernde Begeisterung oder den gleichen vernichtenden Hass hervor wie am Tag des ersten Erscheinens ihrer Bücher.

Ayn Rand ist einzigartig, da sie dem Kapitalismus eine Utopie gegeben hat, eine ideale Gesellschaft der aufgeklärten Egoisten entworfen hat. Sie hat damit zugleich das stärkste moralische Argument gegen den Kapitalismus, das Handeln im reinen Eigeninteresse, zu seiner stärksten moralischen Rechtfertigung gemacht. Gerade deshalb lohnt eine Beschäftigung mit ihrem Werk heute, wo rund die Hälfte aller erwirtschafteten Leistungen vom Staat zwangsweise umverteilt werden, wo die grüne Bewegung der Welt ihre Agenda aufzwingt und wo eine heiß gelaufene Identitätspolitik von links und rechts den Individualismus bedroht.

Doch anders als die meisten Kritiker von Staatsübergriffen, Technologieangst und Antikapitalismus bietet Ayn Rand eine viel tiefer gehenden Kritik an den Grundfesten unserer Kultur und Moral. Seit über 2000 Jahren ist der Altruismus, das Leben für die anderen, die herrschende ethische Lehre der Welt. Seit über 2000 Jahren lautet die große moralische Anklage, dass die Menschen nicht gut genug für die Moral des Altruismus seien. Ayn Rand ermöglicht uns, die große Frage der Moral einmal umzukehren: Ist die Moral des Altruismus vielleicht nicht gut genug für die Menschen?

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