07.06.2021

Dr. M. und die Suizide von Berlin

Von Christoph Lövenich

Titelbild

Foto: 1435262 via Pixabay

Ein 30 Jahre alter Chabrol-Film entfaltet im Lichte des aktuellen Geschehens einen zusätzlichen Reiz.

Eine Frau wirft sich an der Berliner S-Bahn-Station Westkreuz vor den Zug, Menschen erschießen sich oder provozieren Verkehrsunfälle, die für sie tödlich enden. Hängt das etwa mit den Suizid-Fällen zusammen, für die die Berliner Feuerwehr in Zeiten der Coronapolitik so häufig ausrücken muss – was ja angeblich nur an zufällig im April 2020 veränderten Einsatzcodes liegen soll?

Nein, es sind Szenen aus einem Film der französischen Regielegende Claude Chabrol, der 1990 in die Kinos kam. So viele Selbsttötungen in der noch geteilten Stadt – Chabrol drehte kurz vor dem Mauerfall ­–, dass über ein „Suizidvirus“ spekuliert wird. Der Filmtitel lautet „Dr. M“.

Eine Verbeugung vor den Dr.-Mabuse-Filmen des Altmeisters Fritz Lang. Mabuse, eine hundert Jahre alte Romanfigur von Norbert Jacques, war ein Genie des Verbrechens, ein Manipulator, der schon in Langs Stummfilm „Dr. Mabuse, der Spieler“ von 1922 sein „Spiel mit Menschen und ihren Schicksalen“ trieb. Ein Spiel, das man heute vielleicht gar nicht mit der organisierten Kriminalität, etwa den Berliner Clans, in Verbindung bringen würde. Der Mabuse-Gestalt der Weimarer Zeit spricht man vielmehr einen politisch-allegorischen Charakter zu.

In Chabrols Film heißt Dr. M. Friedrich Marsfeldt. Ist er promovierter Psychiater wie Mabuse? Oder etwa Physiker? Das bleibt offen. Jedenfalls leitet er ein Unternehmen namens „Mater Media“. Eine fiktive Firma, denn „Mutti-Medien“ gibt es natürlich nicht. Dr. M. hat Zugang zu Regierungsbesprechungen auf Landesebene, zudem gehören ihm der Disco Club Extinction sowie ein sehr spezielles Wellness-Camp namens Theratos.

„In einer der ersten Einstellungen wird der Tagesspiegel gelesen, der sich jüngst für seine Kampagne gegen Kritiker der Coronapolitik entschuldigen musste, die sich selbst für die Verhältnisse der deutschen Mainstreampresse auf unterirdischem Niveau bewegte.“

Die im Straßenbild allgegenwärtige, hypnoseartige Theratos-Werbung besteht neben Bewegtbildern auch aus Beschallung – eines der ganz wenigen Elemente des dem Science-Fiction-Genre zugerechneten Films, das nach wie vor noch nicht dem Stand der Technik entspricht. Damals seiner Zeit voraus waren die Videotelefonate, die Dr. M. gewissermaßen in seinem Home Office führte.

Ansonsten sind es die ‚alten‘ Medien, die eine große Rolle spielen. In einer der ersten Einstellungen wird der Tagesspiegel gelesen, der sich jüngst für seine Kampagne gegen Kritiker der Coronapolitik entschuldigen musste, die sich selbst für die Verhältnisse der deutschen Mainstreampresse auf unterirdischem Niveau bewegte. „Es ist mir egal, was die Zeitungen schreiben“, darf es eine Nebenrolle im Film formulieren, „das sind Lügner.“1

Die Omnipräsenz des Fernsehens deutet dessen Macht an. David Kalat, Autor eines Buches über die Mabuse-Werke, schreibt dort im Kapitel zu diesem Film: „In dem Maße, wie die Öffentlichkeit ihre Macht an die Medienelite abtritt und zu passiven Couch Potatoes wird, die sich leicht von der Glotze manipulieren lassen, wird die Macht der Medienelite zu einer Art Tyrannei, zu einer Art Faschismus.“2 Koproduziert wurde „Dr. M“ übrigens vom ZDF.

Marsfeldt, der sich mal als „ungeeignete Mutter“ bezeichnet, nutzt seine Macht jedenfalls aus. Während manche eine „Massenhysterie“ durch das vermeintliche Selbsttötungsvirus verhindern wollen, warnt ein Fernsehmoderator der Mutti-Medien: „Keiner glaubt an eine Epidemie, bis auch bei ihm selbst das Fieber steigt.“ Tausende Tote, auch mehr Todesfälle in Krankenhäusern, und die Herrschenden sind ratlos.

„Manches im Film sieht man inzwischen mit anderen Augen, selbst die gesprayte Losung ‚ISOHAFT ist MORD‘.“

Tatsächlich trägt gar kein Virus die Schuld, sondern Dr. Marsfeldt selbst, der die Besucher seines Theratos-Zentrums heimlich hypnotisieren lässt, so dass sich bei diesen später, nach ihrer Rückkehr aus den Wellness-Ferien, der Todeswunsch durch das Hören einer Triggerphrase entzündet. Überhaupt Theratos: Der vermeintliche Erholungstrip besteht – ohne dass die Kunden dies bemerken – im Wesentlichen aus Gehirnwäsche und Überwachung. Während seines Aufenthalts muss man sämtliche persönlichen Gegenstände ablegen, einschließlich der Armbanduhr und erhält Einheitskleidung. „You’ll own nothing and you’ll be happy.“ Einer der Protagonisten, der dem Treiben Dr. M.s auf die Schliche kommt, erhält bei Theratos sogar, nachdem man ihm überwältigt hat, zwangsweise eine Spritze. Ja, manches im Film sieht man inzwischen mit anderen Augen, selbst die gesprayte Losung „ISOHAFT ist MORD“.

Marsfeldt wird vom britischen Mimen Alan Bates verkörpert, daneben wirken auch deutsche Schauspieler mit, darunter Wolfgang Preiss, Fritz Langs letzter Mabuse. Die weibliche Hauptrolle füllt die Amerikanerin Jennifer Beals aus, bekannt aus „Flashdance“. Sie spielt Werbegesicht und -stimme von Theratos, ein Instrument in den Händen M.s, das erst spät die Sache durchschaut. Für ihren Chef wirkt sie als „Medium“: „Die Leute schauen dich an und sie wollen glauben.“ Übrigens interveniert sie, als ein Bodyguard einen Fan daran hindern will, sie zu berühren; Berührungen stören sie nicht. Heute würde das Ordnungsamt einen solchen Verstoß gegen das Abstandsgebot konsequent ahnden.

Der ertappte Marsfeldt, der sich nur am Leben halten kann, wenn er sich von Zeit zu Zeit an eine Maschine anschließt und sich an Bildern des Elends in der Welt labt, wird schließlich zur Rede gestellt. Bevor er selbst den Tod wählt, hat er noch etwas zu seiner Verteidigung vorzubringen. Er sei doch nur das Reisebüro der Todessehnsüchtigen gewesen, habe nur Tickets verkauft. „Habe ich sie irgendwohin geschickt, wo sie nicht sowieso schon hin wollten?“ Das wäre nicht das Dümmste, das dereinst auf dem Grabstein unserer Dr. M. aus dem Kanzleramt stehen könnte.

Zum Ende diesen Schreckens und damit auch von Theratos verkündet die weibliche Hauptfigur ausgangs des Films: „Keinen Urlaub mehr!“. In diesem Sinne: schönen Sommer!

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