26.06.2017

Der Wolf und die 80 Millionen Geißlein

Analyse von Andreas Müller

Titelbild

Foto: Pixel_mixer via Pixabay

Was wir über den Wolf glauben, seien nichts als Märchen und Mythen. Die Rückkehr des Raubtieres nach Deutschland bräuchten wir nicht zu fürchten. Warum nicht, bleibt allerdings ein Rätsel

Der Wolf sei missverstanden. Er habe mehr Angst vor dem Menschen als wir vor ihm. So ähnlich sehen es die sogenannten „Wolfsfreunde“, viele größere Medien, ein Teil der Bevölkerung und insgesamt vor allem Leute, die keine Schafe hüten und fernab der betroffenen Wälder leben. Doch nicht jeder will die offenkundige Wahrheit vom lieben Wolf sofort einsehen. „Obwohl Wölfe nach EU-Recht streng geschützt sind, gibt es weiterhin Vorbehalte und Sorgen […]“, schreibt etwa der Naturschutzbund Hamburg 1. Mit anderen Worten: Obwohl ungewählte EU-Bürokraten schon lange beschlossen haben, dass der Wolf zu schützen sei, stellen die Bürger noch immer Fragen. Ja, wo kommen wir denn da hin?

Ich bräuchte mir hier in Hamburg, wo vermeintlich progressive Auffassungen dieser Art besonders weit verbreitet sind, auch keine Sorgen über Wölfe zu machen. Angebliche Wolfssichtungen im Stadtgebiet wurden nicht bestätigt. Auch wenn ich mich laut Krzysztof Wesolowski vom Nabu Hamburg „glücklich schätzen“ 2 könnte, mal einen zu sehen. Ich sollte mich also eher mit einem Café Latte und den Leuten vom Nabu ins Starbucks setzen und mich über die abergläubigen Bauern, Jäger und Dorfbewohner auf dem Land lustig machen, die noch immer an das Märchen vom bösen Wolf glauben. Stattdessen habe ich mir Ende März in eine Vorlesung zum Thema angehört, die vom Naturwissenschaftlichen Verein in Hamburg in der Universität angeboten wurde: „Rückkehr der Wölfe nach Deutschland. Mythen und Fakten – was kann die Säugetierbiologie zur gesellschaftlichen Diskussion beitragen?“ des Raubtierexperten Ernst-Helmut Solmsen.

„In Nordamerika und Indien wurden Menschen in mehreren Fällen von Wölfen getötet.“

Solmsen erläutert, dass seit 1976 kein Wolf einen Menschen in Europa angefallen hat. Das verwundert allerdings nicht, da man im Vortrag bereits erfuhr, dass es in Europa kaum noch Wölfe gibt und wenn, dann in abgelegenen Wäldern, wo sie fast überall stark gefährdet sind. Lediglich in einer Region im Norden von Spanien und Portugal gelten Wölfe als „ungefährdet“. Wenn Wölfe nicht auf Menschen treffen, können sie diese auch nicht anfallen. Leider weiß Solmsen in der kurzen Fragerunde nach dem Vortrag nicht zu beantworten, wie man auf Wölfe reagieren soll, wenn man ihnen im Wald begegnet. Eine Mutter im Publikum hatte sich diesbezüglich Sorgen gemacht. Uns fehle da einfach die Erfahrung, so der Raubtierexperte. Derweil gab es in Nordamerika 3 und Indien 4 mehrere nachgewiesene Fälle, in denen Menschen von Wölfen getötet wurden. Die Jagd der Wölfe zur räumlichen Einschränkung funktioniere jedenfalls sowieso nicht, so Solmsen. Wie wir nun in Deutschland beobachten konnten, sind die Wölfe in der Lage, in kurzer Zeit weite Strecken zurückzulegen und sich neue Reviere zu suchen.

Wölfe ernähren sich glücklicherweise zum Großteil nicht von Nutz-, sondern von Wildtieren wie von Rehen, danach von Hirschen und Wildschweinen. Es ist dennoch nachgewiesen, dass sie auch Schafe fressen. Dass Wölfe keine Zäune überspringen würden, sei im Übrigen nachweislich falsch. Es ist dokumentiert, dass sie dazu durchaus in der Lage sind. Darum sei Herdenschutz bei Schafen notwendig. Auch Angriffe auf Rinder, wo der Herdenschutz bislang nicht erprobt sei, wurden schon dokumentiert. Allein auf der Insel Sylt wurden allerdings 30 Schafe in einem Jahr von Hunden verletzt, ist im Vortrag zu erfahren. Warum das relevant sein sollte, frage ich mich an dieser Stelle. Für die Angriffe von Hunden sind schließlich deren Eigentümer verantwortlich und haftbar. Derweil wurden im Jahr 2016 allein in Sachsen 219 Nutztiere durch Wölfe getötet. 5 Im Jahr 2003 gab es noch keine von Wölfen getöteten Nutztiere in Sachsen.

Es stimmt zwar: Je mehr Wölfe es gibt, desto mehr Schafe werden gerissen. Allerdings vermehren sich Wölfe nicht explosionsartig. So weiß man vom US-amerikanischen Yellowstone National Park, dass sich die Wolfspopulation irgendwann stabilisiert, gibt Solmsen zu bedenken. Schließlich existiert nur eine begrenzte Menge Nahrung in jeder Region. Nur, frage ich mich da: Warum sollten wir es zulassen, dass sich die Wölfe in Deutschland wie in einem Naturschutzpark vermehren und so lange Nutztiere töten, bis sich ihre Population stabilisiert? Die betroffenen Hirten und Landwirte könnten vielleicht einen wolfssicheren Elektrozaun bauen, der zu hoch ist, dass die Wölfe darüber springen könnten, so eine Idee, die im Vortrag präsentiert wird. Moment, ziehen Hirten nicht mit ihren Schafen durch die Gegend? Wie auch immer. „Die Gesellschaft“ sei jedenfalls bereit, für den Schaden, den die Schäfer und andere durch die Wölfe erleiden, aufzukommen. „Die Gesellschaft“ sind die Steuerzahler der von den Wolfstötungen betroffenen Bundesländer. Woher man so genau weiß, dass die Steuerzahler dazu „bereit“ sind, für den Herdenschutz und die Schäden zum Großteil aufzukommen, bleibt unklar. Jedenfalls müssen sie es.

„Der Wolf tötet Nutztiere und tötet auch Menschen, sobald er keine Angst mehr vor ihnen hat.“

Schließlich stellt Solmsen die beiden wichtigsten Positionen zur Wolfsfrage vor. Wer die biozentrische Perspektive einnimmt, neigt demnach zum Glauben, die „großen Beutegreifer haben ein Existenzrecht. Sie sind ein wichtiger Bestandteil unserer Natur und sie können in einer modernen Kulturlandschaft leben, wenn wir sie akzeptieren, tolerieren und schützen.“ Derweil halten jene Zeitgenossen mit einer anthropozentrischen Perspektive die großen Raubtiere in der modernen Kulturlandschaft für einen Anachronismus. „Es fehlt ihnen der geeignete Lebensraum und sie fügen Wild- und Haustieren Schaden zu. Ihre ökologischen Funktionen können vom Menschen übernommen werden.“

Solmsen versucht es zu vermeiden, im Vortrag zu explizit eine Position zu beziehen; die Gesellschaft habe sich nun eine Meinung auf Grundlage der Fakten zu bilden. Er neige allerdings selbst zur biozentrischen Perspektive. Und mit Verlaub: Das hat man dem Vortrag auch angemerkt. Ich sage in der Fragerunde, dass ich zur anthropozentrischen Perspektive neige und möchte wissen, welche Argumente nun eigentlich für die biozentrische Perspektive sprechen? Und wenn man die Erhaltung der Wölfe schon als solche für wertvoll erachtet, warum könnte man sie dann nicht in menschenleeren Gegenden oder in Zoos erhalten? Aus welchem Grund möchte man, dass sie vor unserer Haustür herumlaufen? Eine klare Antwort erhalte ich darauf nicht. Und eine Mutter, die fragt, ob sie nun ihre Tochter mit dem Rad in der Nähe eines Waldes fahren lassen kann, in dem Wölfe leben, bleibt ratlos zurück.

Ratlosigkeit ist auch meine Empfindung nach diesem Vortrag. Ratlosigkeit, weil alle präsentierten Fakten, soweit ich das erkenne, nur eine Schlussfolgerung zulassen: Wir können nicht ernsthaft wollen, dass der Wolf als freilebendes Raubtier nach Deutschland zurückkehrt. Wir wissen, dass er Nutztiere tötet und wir wissen, dass er Menschen tötet, sobald er keine Angst mehr vor ihnen hat und das Risiko für einen Angriff als vertretbar einschätzt. Es ist daher aus meiner „anthropozentrischen“, pro-menschlichen Sicht offenkundig ein Fehler, den Wolf sich hier ansiedeln zu lassen. Und wenn die EU das anders sieht, dann muss man sie dazu zwingen, die Wolfsschutz-Gesetze entsprechend zu ändern.

Ich habe den Eindruck, dass ich mit dieser Auffassung nach dem Vortrag fast alleine dastehe. Aber warum? Sind bereits so viele Menschen davon überzeugt, dass die nicht-menschliche Natur schützenswerter sei als sie selbst? Und wo waren noch einmal die Argumente für diese Auffassung? Nicht nur ratlos muss ich diese Fragen nun im Raum stehen lassen – sondern fassungslos.

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