30.06.2023

Der missglückte Einsatz von Technik in der Bildung

Von Joris Martin Sabinius

Was bei „Star Trek“ funktioniert, sieht in heutigen Schulen anders aus. Funktionales Analphabetentum, mangelndes mathematisch-analytisches Denken und Ablenkung durch Smartphones bereiten Probleme.

Rationalisierung bedeutet die Entzauberung der Welt. Sie bedeutet nicht das Ende von Entscheidungsdruck und Risiko, sondern ruft den einzelnen vielmehr auf, sich rational, d.h. in bewusster Abwägung von Alternativen, zu verhalten. Das rationale Verhalten befreit darum den einzelnen nicht von Diskriminierung, sondern stellt ihn vielmehr immer wieder unter sie.  Wenn es eine Serie gibt, die den Prozess der  Rationalisierung verdeutlicht und aufzeigt, wie man Technik (so z.B. auch KI) dem Menschen zugewandt einsetzen kann, dann war es „Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert (Star Trek – The Next Generation)“.

Die Serie prägte eine ganze Generation und viele CEOs und Führungskräfte sind bekennende Fans. So zum Beispiel Bill Couglin von Ford Global Technologies, Jason Hiner von TechRepubic, Amir Caspi vom SouthWest Research Institute, Andy Lowery von Real Wear, Jeff Bezos von Amazon, Andy Grove von Intel und Apple, Bill Gates von Microsoft.

Wir sehen in den Folgen, wie Picard, Dr. Crusher, Geordi LaForge oder Data komplizierte Anfragen mündlich an einen Computer stellen und der Computer führt dann die nötigen Operationen durch. Das ist hypothetisch betrachtet möglich und bald wahrscheinlich, nur übersieht man dabei gerne, dass alle Figuren in dieser Serie über ein profundes Bestandswissen verfügen. Um diese Vision umzusetzen, bräuchte man als Fundament den Idealbildungsbürger. An Hand von einzelnen „Star Trek“-Folgen lässt sich gut aufzeigen, auf welche Schwerpunkte Bildung eingehen müsste, damit eine erfolgreiche Partnerschaft zwischen Mensch und KI möglich ist.

Lesen

Beginnen wir mit einer von Jesse Robins vorgeschlagenen Folge:

Meine Adoleszenz begann ungefähr zur gleichen Zeit wie Das nächste Jahrhundert. Meine Lieblingsfolge ist zweifelsohne ‚Darmok'. Ich habe sie mir mindestens ein Dutzend Mal angesehen, weil die Geschichte so eindringlich ist: Zwei Personen, die in einer schwierigen Situation feststecken und versuchen zu verstehen, wie sie in Echtzeit kommunizieren können. Die Geschichte hat mich gelehrt, dass die Technik zwar viel leisten kann, aber manchmal nur bis zu einem gewissen Grad, und dass die Menschen das wirklich Wichtige selbst meistern müssen. Oft bedeutet dies, dass man in gefährlichen Situationen improvisieren und schnell lernen muss. Die Menschen überbrücken die Lücke, die die Technik hinterlässt. Ich liebe das Geekige von Star Trek, aber für mich wird Technologie immer durch Menschen vermittelt, die versuchen, zusammenzuarbeiten.

In der von Jesse Robins erwähnten Star Trek-Folge muss Captain Picard mit einer Spezies kommunizieren, die sich nur in Metaphern verständigt. Sein Universalübersetzer, der die Gehirnströme scannt, kommt an seine Grenze. So ist Captain Picard ganz auf seine intellektuellen Fähigkeiten beschränkt. Durch Geduld und Beobachtungsgabe findet Picard heraus, dass die Außerirdischen Darmok und Jalad Krieger sind, die im Kampf gegen eine wilde Bestie Freunde wurden. Picard erzählt Darmok den Gilgamesch-Epos, eine Geschichte, die Parallelen zum Leidensweg von Darmok und Jalad aufweist. Die Folge „Darmok“ zeigt die Probleme auf, die im Zusammenhang mit KI auftreten. Selbst die beste Technologie kann intellektuelle Mündigkeit nicht ersetzen. So ist es unvermeidbar, dass das Schul- und Universitätswesen digitalisiert wird, aber ohne die Fähigkeiten des mathematisch-analytischen Denkens, ein profundes Bestandswissen und die Kulturtechnik des Lesens verpufft auch die beste Technologie.

„Leider ist man im Begriff, Technologie als Surrogat von Kompetenz und deren Erwerb einzusetzen.“

Leider ist man im Begriff, Technologie als Surrogat von Kompetenz und deren Erwerb einzusetzen. Es geht schon los mit der Kulturtechnik des Lesens. Jeder fünfte 15-jährige in Deutschland ist funktionaler Analphabet, kann nur einfache Sätze lesen und verstehen. Die dramatischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, zeigte bereits Neil Postman auf1. Einst waren „die Redner ebenso wie ihr Publikum [...] an eine Beredsamkeit gewöhnt, die man als literarisch bezeichnen kann. Und diese Sprache war offenkundig nach dem Muster des geschriebenen Worts geformt [...]. Und dass das Publikum imstande war, diese Sprache mit dem Gehör zu verarbeiten, ist nur für jene erstaunlich, in deren Kultur das gedruckte Wort keine große Resonanz mehr hat."

Wäre Captain Picard funktionaler Analphabet, hätte er nie im Leben das Selbstvertrauen und die Geduld aufgebracht, herauszufinden, was denn nun die Außerirdischen Darmok und Jalad von ihm wollen, denn: „Der Leser muss sich mit intellektueller Wachsamkeit wappnen. Seine Reaktionen beim Lesen sind isoliert, sein Verstand ist ganz und gar auf sich selbst gestellt. Wer den kalten Abstraktionen gedruckter Sätze gegenübertritt, hat es mit der nackten Sprache zu tun. Schönheit oder Gemeinschaft kommen ihm dabei nicht zur Hilfe. Deshalb ist Lesen seinem Wesen nach eine ernsthafte Tätigkeit.“2

Mathe

In der Folge „Déjà vu“ steckt die Enterprise in einer Zeitschleife fest. Zunächst sind sich die Besatzungsmitglieder dessen nicht bewusst. Nach einem Pokerspiel der Führungsoffiziere beginnt Dr. Crusher jedoch Geräusche zu hören. Da sie während des Spiels ein Déjà-vu-Erlebnis hatte, nimmt Dr. Crusher einen Tricorder mit in ihr Quartier und zeichnet die Geräusche auf. Bei der Analyse findet sie heraus, dass es sich um die panischen Befehle der Besatzung handelt. Bei einer Besprechung diskutieren die Führungsoffiziere nun, wie sie aus der Schleife wieder herauskommen. Commander Data schlägt nun vor, eine kurze Nachricht an sich selbst, in sein positronisches Gehirn, zu senden.

In der folgenden Schleife hat Crusher beim Pokerspiel wieder ein Déjà-vu-Gefühl, sie möchte die Karten vorhersagen, aber als Data das nächste Blatt austeilt, sind alle Karten Dreier, gefolgt von Dreier-Sets. Die Zahl drei taucht auch in anderen Bereichen des Schiffsbetriebs auf. Als die Crew das zeitschleifenauslösende Ereignis erreicht, wird Data plötzlich klar, dass die drei für die Anzahl der Kommando-Punkte auf Commander Rikers Uniform steht, dass nur Commander Rikers Vorschlag die Enterprise aus der Zeitschleife befreien kann.

„Meist erledigen Schüler die gesamte Arbeit mit Geräten, so dass sie die dahinterstehenden Konzepte nicht erlernen und die Notwendigkeit eines Konzepts nicht verstehen und später anwenden können.“

Wenn man diese Folge kurz rekapituliert und auf Problemlösungsstrategien reduziert, dann ist ersichtlich, dass besonders Dr. Crusher und Commander Data ausgesprochen analytisch an das Problem herangegangen sind. Ohne mathematisch-analytisches Denken wären sie wohl nie auf eine Lösung gekommen und die Enterprise würde für die Ewigkeit in dieser Zeitschleife festsitzen.

Auch in diesem Fall hat das Schulsystem versagt. Auch beim mathematisch-analytischen Denken wurde Verstehen durch einen Umgang mit Technik ersetzt. Das beginnt schon mit dem Taschenrechner. Obwohl Studien ergaben, dass Taschenrechner weder negative noch positive Auswirkungen auf die mathematischen Grundfertigkeiten haben und dass sie die mentalen und schriftlichen Methoden des Rechnens ergänzen und verstärken können, so gestaltet sich der Alltag doch grau. Schülern sollte ermöglicht werden, Zahlenmuster zu untersuchen und zu verallgemeinern, zu den sie zuvor keinen Zugang hatten. Meist erledigen Schüler nun aber die gesamte Arbeit mit Geräten, so dass sie die dahinterstehenden Konzepte nicht erlernen und die Notwendigkeit eines Konzepts nicht verstehen und später anwenden können. Die Fähigkeit, mathematisch und abstrakt zu denken, nimmt ab.

Das Fehlen dieser Fähigkeit äußert sich dann z.B. durch die Unfähigkeit, Erlerntes auf neue Situationen anzuwenden, große Schwierigkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Ereignissen zu verstehen, das Nicht-Erkennen von Ursache und Wirkung und somit das Nicht-Verstehen-Können der Konsequenzen des eigenen Handelns,. Auch wenn KI mittlerweile dabei hilft, die Algorithmen für die Matrizenmultiplikation zu verbessern, würde bei einem Mathematikunterricht, der Schülern und Studenten Eingaberezepte und nicht das Verstehen von Konzepten vermittelt, wohl jeder für immer in einer Zeitschleife feststecken.

Kommunikationsmittel

Schauen wir uns die Hard- und Software an, die bei „Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert“ genutzt wird. Im Verlauf der Serie nimmt die Kommunikationskonsole von Captain Picard das Aussehen eines iPads an. Als ultimatives Kommunikationsmittel dient das Gerät der Besatzung für den Zugriff auf Schiffsfunktionen wie technische Steuerungen, taktische Informationen, Sensormesswerte, Flugsteuerungen, interne Diagnosen und andere Daten. Das Gerät ermöglichte auch Videokonferenzen und Datenanalysen in Echtzeit. Die eingesetzte Software heißt LCARS (Library Computer Access and Retrieval System). Wie der Name schon sagt, wurde das System entwickelt, um einen schnellen und effizienten Zugriff auf große Datenmengen zu ermöglichen. Das Interface ist sowohl ergonomisch als auch intuitiv gestaltet und ermöglicht eine einfache Handhabung des Systems. Außerdem ist die Software in hohem Maße anpassbar, so dass jeder seine eigene Schnittstelle entwerfen kann. Mittlerweile können wir nicht nur eine Version von LCARS auf dem eigenen Rechner benutzen, sondern wir haben im echten Leben Programme und Apps, die graphisch mehr leisten können als LCARS.

Warum produzieren sie dann exakt das Gegenteil vom eigentlich erwünschten, nämlich leistungsmotivierten Schülern und Studenten? Der Psychologe Jonathan Haidt formuliert es so: „In vielen Studien wurde festgestellt, dass Schüler während des Unterrichts häufig auf ihr Handy schauen [...] Ihre Konzentration wird oft und leicht durch Unterbrechungen durch ihre Geräte gestört. Eine Studie aus dem Jahr 2016 ergab, dass 97 Prozent der Studenten angaben, dass sie ihre Telefone während des Unterrichts manchmal für andere Zwecke als für den Unterricht nutzen. Fast 60 Prozent der Studenten gaben an, dass sie mehr als 10 Prozent der Unterrichtszeit mit ihrem Handy verbringen. Viele Studien zeigen, dass Schüler, die ihr Handy während des Unterrichts benutzen, weniger lernen und schlechtere Noten erhalten.“  

„KI und ähnliche Technik wird nicht mehr verschwinden, genauso wenig wie das Smartphone, aber der Umgang damit sollte sich gründlich ändern.“

Studien deuten darauf hin, dass die Bewältigung von analogen Aufgaben vernachlässigt wird, wenn den Probanden bewusst ist, dass sie eine Textnachricht oder einen Anruf verpasst haben. Ähnliche Untersuchungen zeigen, dass Personen, die ihr Handy klingeln hören, während sie von ihm getrennt sind, weniger Freude an konzentrierten Aufgaben haben, da sie vermehrt an ihr Handy denken. Da Bildungseinrichtungen zunehmend „vernetzte Klassenzimmer" einführen, wird die Anwesenheit von Mobilgeräten der Schüler in Bildungsumgebungen sowohl das Lernen als auch die Prüfungsleistungen beeinträchtigen – insbesondere dann, wenn die Geräte zwar in der Nähe vorhanden, aber nicht in Gebrauch sind.

Vergleichen wir dies mit den Aktivitäten von Sternenflottenmitgliedern, so stellen wir einige interessante Abweichungen zu unseren Smartphones fest. Zum einen nutzen alle im Star-Trek-Universum ihre Pads nur aus rein dienstlichen Gründen. Privat geht man meistens anderen, aber fast durchgehend analogen Tätigkeiten nach. Es wird nie gezeigt, dass ein Besatzungsmitglied stunden- oder tagelang vor einer Art Spielkonsole verödet. Die Crewmitglieder schicken sich auch keine privaten Nachrichten. Eine Selfie-Kultur existiert nicht.

Haidt argumentiert, dass der Einsatz von KI die bereits bestehenden Probleme der Smart-Device-Kultur noch verstärken wird:

Die erste und offensichtlichste Bedrohung besteht darin, dass KI-gestützte soziale Medien einen immer größeren Strom von Müll in unsere öffentlichen Gespräche spülen werden.[…] Da sich immer mehr Menschen mit diesen Technologien vertraut machen, wird der Zustrom hochwertiger Deepfakes in die sozialen Medien wahrscheinlich schon bald sehr viel größer werden. […] Die weitere Integration von künstlicher Intelligenz in die sozialen Medien wird für Heranwachsende wahrscheinlich eine Katastrophe sein. Kinder sind die Bevölkerungsgruppe, die am anfälligsten für süchtig machende und manipulative Online-Plattformen sind, da sie den sozialen Medien stark ausgesetzt sind und ihr präfrontaler Kortex (der Teil des Gehirns, der am meisten für exekutive Kontrolle und Reaktionshemmung verantwortlich ist) noch nicht weit entwickelt ist. Die Epidemie psychischer Erkrankungen bei Teenagern, die um 2012 in mehreren Ländern begann, ereignete sich genau zu dem Zeitpunkt, als Teenager ihre Klapphandys gegen Smartphones mit Social-Media-Apps austauschten.

Ausblick

KI und ähnliche Technik wird nicht mehr verschwinden, genauso wenig wie das Smartphone, aber der Umgang damit sollte sich gründlich ändern. Denn im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist die Romantik der Science-Fiction und des Bildungsideals von Star Trek einer kuntenbunten Trostlosigkeit gewichen. Man lässt sich – in Anlehnung an Postmans Prophezeiungen aus den 1980er Jahren formuliert – von Trivialitäten ablenken. Politik ist zum Amüsierbetrieb verkommen. Der ernsthafte Austausch ist einem Kita-Geplapper gewichen. Der Bürger ist zum Zuschauer geworden. Unsere Schulbildung verkaufte uns Totalitarismus als männlich, brüllend und brutal. Was ist, wenn der neue Totalitarismus sich als besonders sensibel geriert? Wer ist ernsthaft dazu bereit und in der Lage, sich gegen diesen Orkan aus Nichtigkeiten aufzulehnen? Wie lehnt man sich überhaupt dagegen auf? Das Gespräch, die Diskussion, im schlimmsten Fall der Streit sind ernsthaft nur möglich bei freier Meinungsäußerung. Wie soll man aber mit der totalen Empörung und der alles zersetzenden Zerstreuung in Austausch treten? 3

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