26.01.2024

Die Ungetüme des 21. Jahrhunderts

Von Joris Martin Sabinius

Titelbild

Foto: Abraham Bosse via Wikicommons

In seinem neuen Buch „The New Leviathans“ behandelt der britische Philosoph John Gray die Herausforderung des Wokeismus und die Zukunft des Liberalismus. Zur Inspiration dient Denker Thomas Hobbes.

Alles deutet darauf hin, dass wir uns in eine klassisch historische Epoche zurückbewegen und nicht in die leere, halluzinatorische post-historische Ära, die in Fukuyamas Artikel umschrieben wird. Wir leben in einer Epoche, in der die politische Ideologie […] einen rasch schwindenden Einfluss auf die Ereignisse hat, und in der uralte Kräfte miteinander ringen.1

Das schrieb John Gray im Jahr 1989, einige Monate nach Fukuyamas berühmten „The End of History“-Artikel: Keine schöne neue Welt. Kein Ausbau der westlichen Welt. Kein Ende der Geschichte. Ganz im Gegenteil. Rückblickend betrachtet, war der Kalte Krieg eine Art Streit zwischen den Ideologien Liberalismus und Kommunismus. Dieser Streit sorgte dafür, dass die Einhaltung der unveräußerlichen Menschenrechte ein Markenzeichen des Westens wurde. Hatte man früher um des guten Rufs willen auch eine dissidente Teil-Öffentlichkeit geduldet, so wurde diese Duldung nach 1990 systematisch abgebaut. Erst, als der reale Sozialismus sich nicht mehr legitimieren konnte, gewann der Islam als Alternative an Einfluss. Seitdem sind Religionskonflikte genauso wiedergekommen wie ethnische Säuberungen. Kriege entstehen wieder aus irrationalen Feindschaften, aus dem Wettbewerb um Handel und Territorien, aus dem Kampf um Leben und Tod um knappe Ressourcen. Mit dieser Mutation des Krieges wird der Druck, den sozialen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten, gelockert. Kurz, der Kalte Krieg war eine Art eine große Pause, die man dafür nutzen konnte, sich einzureden, dass wirklich Schlimmes nie mehr zurückkehren würde.

John Gray ist einer der anspruchsvollsten und umstrittensten politischen Theoretiker in der englischsprachigen Welt. Er lehrte zuletzt als Professor für europäisches Denken an der London School of Economics, nachdem er zuvor mehr als 20 Jahre lang Fellow am „Jesus College“ in Oxford war. Als produktiver Autor, der inzwischen mehr als 15 Bände veröffentlicht hat, darunter Monographien, polemische Traktate und Sammlungen von Abhandlungen, Essays und Artikeln, beruht sein Ruf zum Teil auf seinem Status als öffentlicher Intellektueller. So hat er unter anderem lesenswerte Arbeiten über soziale Gerechtigkeit, Globalisierung und Fortschritt, Liberalismus und Konservatismus sowie über das Wesen von Werten im Allgemeinen und von Freiheit im Besonderen vorgelegt. Gray ist auch einer der führenden Interpreten von Denkern wie Hayek, Mill und Oakeshott. Am intensivsten hat er sich wohl mit seinem ehemaligen Mentor Isaiah Berlin auseinandergesetzt, dessen Lehre des Wertepluralismus er weiterführt.  Er teilt Berlins essayistischen Stil sowie seine Abneigung, sich einer bestimmten Schule anzuschließen  – oder eine zu gründen.

Gray beriet informell Politiker, obwohl sein früherer Enthusiasmus für Thatcher und seine kurze Liebelei mit New Labour von scharfer Kritik an beiden abgelöst wurde. Zuletzt hat er sich über die politische Theorie, ja über die Politik hinaus, dem zugewandt, was man in Ermangelung eines besseren Begriffs als „Kulturkritik“ bezeichnen könnte, und sich insbesondere mit der Ökologie beschäftigt: Der Klimawandel ist für ihn Wirklichkeit – und deswegen sollten wir Atomkraftwerke bauen.

Krise der westlichen Welt

Grays aktuelles Werk „The New Leviathans“2 beschäftigt sich zum einen mit dem Gründungsvater des liberalen Staates, Thomas Hobbes, und zum anderen mit den „uralten Kräften“, die nach dem Ende des Kalten Krieges wieder an die Oberfläche sickern. Diese neuen Barbareien sind nicht trotz des Nachkriegsliberalismus entstanden, sondern seinetwegen. Ob nun in der eher rechten neoliberalen oder in der woken grünen Form, die jetzige Form des Liberalismus, der auf den Ideen von Francis Fukuyama und John Rawls fußt, kann die westliche Welt nicht aus der Krise herausführen – er führte sie ja hinein. Man ist „weltoffen“, während Judenhass und andere Formen der Barbarei die Straßen beherrschen und moralisch verrückte Ideologen den Bürger zwingen, seine Enteignung zu akzeptieren, einschließlich der Trennung der Kinder von ihrem eigenen Körper durch den Kult des Transgenderismus. Dieser Wahnsinn wird von der Regierung, der Wirtschaft, den Medien unterstützt. Dort hat ein Schlag Mensch das Sagen, der glaubt, dass es kein Problem gibt, das nicht durch eine höhere Dosis von „Offenheit“ geheilt werden kann.

Das Buch weist inklusive Anhang keine 200 Seiten Länge auf; jedem Kapitel ist ein Zitat aus Hobbes‘ „Leviathan“ vorangestellt. Mal geht es um Hobbes selbst, mal um halb vergessene russische Intellektuelle des 19. und 20. Jahrhunderts, mal um Wokeismus und die Innenpolitik der USA, mal um Transhumanismus. Aus dem Geschilderten wird eine staubtrockene Folgerung gezogen und dann geht Gray ungerührt weiter. Er beschreibt die neu aufgetauchten politischen Irrgärten mit Anekdoten. Das erlaubt dem Leser sich diese Ungetüme räumlich vorzustellen – und Ungetüme sind es:

Obwohl sie Sicherheit versprechen, fördern die neuen Leviathane die Unsicherheit. [...] Innerhalb der westlichen Gesellschaften versuchen rivalisierende Gruppen, die Macht des Staates in einem neuen Krieg aller gegen alle zwischen selbst definierten kollektiven Identitäten zu erobern. […] In Schulen und Universitäten wird die Konformität mit der herrschenden fortschrittlichen Ideologie gelehrt. Die Künste werden danach beurteilt, ob sie anerkannten politischen Zielen dienen. [...] Diese Unterdrückung ist nicht das Werk der Regierungen. Die herrschenden Katechismen werden von der Zivilgesellschaft formuliert und durchgesetzt.

„Liberalismus schließt eine gewisse Art des Glaubens ein. Dieser Glaube ist für John Gray christlich, genau genommen ‚eine Fußnote des Christentums‘.“

Grays kaleidoskopischer Stil versucht nun die Frage zu beantworten: Wie konnte es so weit kommen? Hobbes ursprüngliches Monster, der Leviathan, hatte ja recht moderate Ziele: „Über die Sicherung seiner Untertanen gegeneinander und gegen äußere Feinde hinaus hatte er keinen Auftrag.“ Um sich der Beantwortung der Frage anzunähern, wiederkäut Gray nicht das Bekannte über Hobbes, also den liberalen Staatsrechtler, der einen Staat vorstellt, der individualistisch, egalitär, universalistisch und melioristisch ist, sondern den Sprachkritiker, der „zeigt, wie der Mensch sich von Worten beherrschen lässt. Dieser andere Hobbes kann uns helfen zu verstehen.“

Das Selbst war für Hobbes nicht mehr als ein Strom von Gedanken und Begierden. Der ganze Mensch ist wie alles andere, Materie in Bewegung. „Die gottgleiche Macht der Sprache unterscheidet den Menschen von anderen Lebewesen. Sie flößt ihm auch eine ständige Angst ein. Der Mensch ist in der Lage, sich eine Welt vorzustellen, in der er nicht mehr existiert.“ Das Wissen darum, dass sein Leben durch den Tod begrenzt ist treibt  ihn dazu, die Unsterblichkeit in Ideen, seien sie auch noch so absurd, zu suchen. „Das Töten um der Worte willen gibt seinem Leben einen Sinn.“  Die Zerstörung anderer Menschen um einer Abstraktion willen schafft die Illusion, der Sterblichkeit der Getöteten zu entkommen. Dadurch wird Massenmord zum krassesten Ausdruck der Todesverleugnung.

Liberalismus und Toleranz

Was ist nun Liberalismus für Hobbes und Gray? Wie weit wurde der Begriff Liberalismus mittlerweile entkernt und durch allerlei Mummenschanz ersetzt? Was wird vom Liberalismus bleiben? Was tritt an seine Stelle? Liberalismus schließt eine gewisse Art des Denkens ein. Für Gray steht und fällt der Liberalismus mit Hobbes Gedankengebäude: „Hobbes war ein Liberaler – vielleicht der einzige, der noch lesenswert ist.“ Liberalismus meint nicht „[…] uneingeschränkte menschliche Autonomie. Unternehmen wie der Transhumanismus und die technologische Überwindung des Todes […]“, sondern eine Art des Denkens, in der „Skeptizismus [...] mit Materialismus kombiniert“ wurde.

Liberalismus schließt eine gewisse Art des Glaubens ein. Dieser Glaube ist für John Gray christlich, genau genommen „eine Fußnote des Christentums“. Die Überzeugung, dass menschliche Eigenschaften wichtiger sind als kulturelle Identitäten, spiegelt den Gedanken wider, dass der Mensch nach dem Abbild Gottes geschaffen wurde. Der Glaube, dass menschliche Institutionen auf unbestimmte Zeit verbesserungsfähig sind, entspricht dem theistischen Glauben, dass die Geschichte eine moralische Erzählung von Sünde und anschließender Erlösung ist.

Toleranz war die christliche Praxis, mit Überzeugungen und Werten zu leben, die als häretisch oder verwerflich galten. Die Einsicht, dass der Mensch fehlerhaft ist, ermöglichte es liberalen Gesellschaften, ein gemeinsames Leben zu führen, in dem Unterschiede im Glauben und in den Wertvorstellungen akzeptiert werden konnten. Der Wokeismus lehnt solche Kompromisse ab. So befinden wir uns in einem Prozess, in dem die westlichen Eliten im Namen einer falschen Offenheit echter Toleranz abschwören, sie sogar bekämpfen und die kirchlichen Vertreter die Selbstauflösung des Christentums vorantreiben. „Wenn dieser Prozess anhält, werden die liberalen Freiheiten bald in Vergessenheit geraten, ebenso wie die Welt, in der sie praktiziert wurden.“

„Liberalismus braucht  einen metaphysischen Kitt, der alle, und seien sie auch noch so verschieden, zusammenhält – und dieser Kitt bröckelt.“

Gray ist jemand, der dem Wunsch nach einer harmonischen Gesellschaft mit großer Vorsicht begegnet. Gray betrachtet Harmonie nicht unbedingt als ein schädliches Konzept, sieht aber das Streben nach Harmonie als unrealistisch und daher als schädlich für die Gesellschaft an, da ständig ein Gefühl der falschen Hoffnung vermittelt wird. Echter Liberalismus bedeutet nicht einen erzwungenen Konsens: „Das Ziel ist nicht die Einigung.“

Jegliche Diskussion über den Begriff der Integration wird völlig irrelevant, wenn nicht zuerst die kulturellen Unterschiede innerhalb einer multikulturellen Gesellschaft akzeptiert und anschließend beibehalten werden. Ebenso wenig wie man einer Pflanze diktieren kann, wie viele Blüten sie treibt, ebenso wenig kann man nach Grays Vorstellung gesellschaftliche Konflikte dadurch lösen, indem man Rechte erst erfindet und dann zwanghaft durchsetzt. Darüber hinaus hat die Vorstellung von harmonischer Integration in liberalen Demokratien ein Umfeld geschaffen, dem es an Toleranz mangelt und das den Extremismus auf beiden Seiten des politischen Spektrums fördert.

Liberalismus braucht  einen metaphysischen Kitt, der alle, und seien sie auch noch so verschieden, zusammenhält – und dieser Kitt bröckelt: „Als Gegenleistung für ihre Arbeit wurde den Leibeigenen von den Grundherren Schutz versprochen. Die Leibeigenen des einundzwanzigsten Jahrhunderts sind der Anarchie und Verzweiflung preisgegeben. [...] Der Feudalismus wurde durch Mythen einer göttlichen Ordnung gestützt, in der die Ärmsten ihren Platz hatten. Der Unterschicht des einundzwanzigsten Jahrhunderts wird kein Platz in der Ordnung der Dinge angeboten.“ Diese Trostlosigeit und Grausamkeit war der ideale Nährboden für ein abscheuliches Ungeheuer, dass man erlegen muss, solange es noch nicht voll ausgereift ist: „Die Ursprünge der ‚Woke‘-Bewegung liegen im Verfall des Liberalismus. Psychologisch gesehen bietet sie einen Ersatzglauben für diejenigen, die ohne die vom Christentum vermittelte Hoffnung auf universelle Erlösung nicht leben können.“

Der woke Kult

Dabei ist Woke für Gray weder post-strukturalistisch noch faschistisch oder marxistisch: „So wie der Faschismus Nietzsches Denken entwürdigt hat, vulgarisiert ‚Woke‘ die postmoderne Philosophie.“ Eher ist es ein Opferkult, der sich um den Götzen Neid dreht. Dieser Neid kann sich auf alles beziehen, auf Besitz, auf Macht, auf Privilegien, aber auch Schönheit, Liebesleben und Bildung. Neid ist und bleibt der einzige soziale Affekt, der sich weder religiös übersetzen noch sublimierend verwandeln lässt – und davon zehrt der Wokeismus: „Woke ist sowohl eine Karriere als auch ein Kult.“

Die jungen Woken unterscheiden sich zunächst wenig von ihren Altersgenossen, die aus vergleichbaren sozialen Verhältnissen stammen. Oft aber sind sie Smartphone-verblödet, zuweilen gehören sie zu isolierten Gruppen, die sich um jemanden scharen, der eine Handvoll Youtube-Videos mehr gesehen hat als man selbst. Nicht immer, aber auch nicht ganz selten geht ihrer Wendung zum Woken eine soziale Demütigung voraus. Wenn sie dann aufstiegsorientierte Eltern haben, an deren Ambitionen sich die Selbsteinschätzung schließlich bemisst, müssen sie ihr Scheitern als Entwertung ihrer ganzen Person empfinden: „In ihren wirtschaftlichen Aspekten sind die Aufstandsbewegungen eine Revolte der professionellen Bourgeoisie. [...] Die Eliten wurden in größerer Zahl produziert, als die Gesellschaft aufnehmen kann.“

„Folgt man Gray, dann ist Ethik ein Prozess der Empirie und Liberalismus ein Instrument, das Koexistenz organisiert, keine perfekte politische Struktur.“

Die Bereitschaft, allenthalben Demütigungen wahrzunehmen, gehört zu den charakterlichen Dispositionen, die bei Woken zu finden sind. Sie müssen in der Kindheit entweder ein Selbstverständnis internalisiert haben, in dem jedes Misslingen und jede Enttäuschung zur Beschämung wird oder sie wurden so verwöhnt, dass sie das „Abfall“-produkt von Atmung, Kohlendioxid, schon für eine Form von Unterdrückung halten. In beiden Fällen interpretieren sie ihre barbarische Zurichtung von Bildungsinstitutionen als Akte der Rache und Selbstverteidigung: „Der Universitätscampus ist das Modell für ein inquisitorisches Regime, das sich auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt hat.“ Der Aufstieg durch Bildung verschwindet. Kleinfamilien und feste Partnerschaften gelten als toxisch. Den einzigen Besitz, den Viele noch ihr Eigen nennen können, sind Schulden. Wokeismus setzt der ganzen Misere nun auch noch ein Horn auf: „Eine Funktion der ‚Woke‘-Bewegung besteht darin, von den zerstörerischen Auswirkungen des Marktkapitalismus auf die Gesellschaft abzulenken.“

Liberalismus kann man nicht erzwingen. „Im Gegensatz zum humanistischen Bolschewismus gab es einst liberale Gesellschaften. Aber sie sind zufällig entstanden, und es bestand nie die Möglichkeit, dass sie universell werden würden.“ Allerdings ist Vorsicht geboten. Es besteht die Möglichkeit, dass westliche Gesellschaften sich in einem ähnlichen Malstrom befinden wie Russland zwischen 1890 und 1950: „Die Jahrzehnte, die zur Revolution im zaristischen Russland führten, weisen mehrere Merkmale auf, die den Westen des 21. Jahrhunderts vorwegnehmen.“

Sollte John Gray damit recht behalten, dann Gnade uns Gott: „Zig Millionen Menschen starben bei dem Versuch, eine neue Menschheit zu schaffen. Das kommunistische Experiment veranschaulicht eine hobbessche Wahrheit, an der alle derartigen Projekte scheitern. Menschen sind materielle und vergängliche Wesen. In extremen Situationen funktionieren die Worte, mit denen sie sich zu Personen machen, nicht mehr.“

Folgt man Gray, dann ist Ethik ein Prozess der Empirie und Liberalismus ein Instrument, das Koexistenz organisiert, keine perfekte politische Struktur. Diejenigen, die versuchen, eine Gesellschaft auf eine Vision hin auszurichten, unabhängig davon, ob diese Vision vermeintlich allgemeingültige Werte enthält oder nicht, werden letztendlich ein Umfeld der Intoleranz und des Konflikts schaffen, da es völlig an Akzeptanz für die Koexistenz von Individuen innerhalb einer Gesellschaft fehlt, die unterschiedliche oder widersprüchliche Werte vertreten. Will der Liberalismus im 21. Jahrhundert überhaupt noch ein Angebot machen, dann ist er gut beraten, sich drastisch zu verschlanken und staatlichen Interventionen mit allergrößter Skepsis und im Zweifelsfall mit Ablehnung zu betrachten. Bis dahin müssen sich Liberale damit begnügen, den Mitmenschen „die Angst vor der Dunkelheit“ zu nehmen.

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