02.04.2015

Paternalismus: Die unsichtbare Macht

Essay von Patrick Hedfeld

Der Paternalismus erreicht neue Dimensionen. Die Forderung nach ausreichendem Platz zum Auflegen der Handflächen vor der PC-Tastatur ist ein Beispiel dafür. Patrick Hedfeld stellt einen Zusammenhang zu Foucaults Panoptikum her und bezieht es auf die virtuelle Welt von heute

Anfang des Jahres verhandelte die große Koalition über die von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) angestoßene Änderung der Arbeitsstättenverordnung. Dabei wurde auch über den „Handflächenfreiraum vor der PC-Tastatur“ diskutiert. Die Ministerin forderte, an Schreibtischen in Heimbüros soll ausreichend Platz zum Auflegen der Handflächen vor einer Computertastatur sein. Es scheint, als kenne die Regulierungs- und Verordnungsstruktur der Europäischen Union sowie der deutschen Regierung in vielen Bereichen keine Grenzen. Man staunt über die Kleinlichkeit solcher Gesetzesentwürfe und wundert sich über die Debatten, die manchmal an der Öffentlichkeit vorbei geführt werden.

Ein Staat soll das Individuum – vor allem Wehr- und Schutzlose, Minderheiten und Bedürftige – schützen, aber nicht bevormunden. Er soll nicht agieren, als wäre er ein überfürsorglicher Vater oder eine Gluckenmutter, die ihre Kinder stets bemuttert. Am Beispiel wird einer der neuesten Ansätze paternalistischer Politik deutlich, nämlich: eine Form von Arbeitssicherheit bzw. Arbeitswohlgefühl zu schaffen, die jedem Menschen entsprechenden „Freiraum“ geben möchte. Eine Vorschrift für genügend Handflächenfreiraum würde da Sorge tragen, wo Arbeitnehmer nicht genug Platz vor der Tastatur haben. Das wirft die Frage auf: Können die Menschen vor Ort nicht selbst am besten entscheiden, wie viel Freiraum sie vor der Tastatur brauchen?

Um der Sache auf den Grund zu gehen, lohnt erstmal ein Blick zurück: Das Buch Überwachen und Strafen des französischen Soziologen Michael Foucault beschäftigt sich mit der Entwicklung der modernen Strafsysteme im Europa des 18. Jahrhunderts. [1] Im Mittelalter gab es die verschiedensten Foltermethoden, und auch die Hinrichtung oder die Demütigung einzelner Personen vor der breiten Öffentlichkeit gehörten zum Repertoire der Bestrafungen. Zu Beginn der Neuzeit kam es durch den enormen Bevölkerungsanstieg zu viel mehr Hinrichtungen und Prangerzeremonien als in den Jahrzehnten zuvor. Einzelne Ereignisse wurden durch regelmäßige Gruppen- oder Massenveranstaltungen ersetzt. Jetzt solidarisierten sich die Menschen mit den Bestraften und sahen die Regierungen als grausam und machthungrig an. Es kam sogar zu Befreiungen von Gefangenen durch Zuschauer. Die Machthaber mussten das Strafsystem reformieren, um gegenüber der Bevölkerung nicht an Autorität zu verlieren. Dies markierte den Beginn des modernen Gefängniswesens und damit der Machtsubtilität.

„Das Gefühl einer ständigen Überwachung soll dafür sorgen, dass wir uns an die Regeln halten“

Als eine besondere Form des Gefängnisses brachte die Neuzeit das Panoptikum hervor. In ihm gibt es immer einen zentralen Punkt, von dem aus man alle Insassen beobachten konnte. Der Trick war nun, dass die Insassen nicht immer wussten, wann und ob sie gerade kontrolliert wurden. Bezweckt wurde, dass sie sich durch das Gefühl, einer ständigen Überwachung ausgesetzt zu sein, regelkonform verhalten würden. Dies markiert den Einzug der Machtsubtilität in den Überwachungs- und Strafapparat der westlichen Gesellschaften. Foucault nennt dies „Panoptismus“ und sieht dieses Ordnungsprinzip in allen liberal-modernen Gesellschaften vorliegen. Bemerkenswert daran ist, dass das Panoptikum auch eingesetzt wurde, um durch Überwachungsdruck oder die machtsubtile Angst die Arbeitskraft von Fabrikarbeitern zu erhöhen.

Diese Idee blieb nicht auf Fabriken und Gefängnisse beschränkt. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden Krankenhäuser, das Militär, Schulen und praktisch alle öffentlichen Einrichtungen unter ähnliche Strukturierungsprinzipien gestellt. [2] Diese unsichtbare Subtilität eroberte als Machtordnungsstruktur immer mehr Räume. Wo früher etwa Kriminalität bekämpft werden sollte, wird heute an immer mehr Orten gegen die Abweichung von Normen vorgegangen – aus Krisenräumen werden Räume der Abweichung. [3]

Warum sollte uns solch eine unsichtbare Ordnungsstruktur in Räumen stören? Was bedeutet das überhaupt? Als Beispiel nennt Foucault die Schule: Dort gab es nicht nur Vorschriften für die Sitzreihenfolge oder neue Stundenpläne, selbst die Haltung der Hand oder die Stellung des Zeigefingers zum Daumen wurden Regeln unterworfen. Die subtile Macht des panoptischen Schulsystems wirkte bis in die Details der Lebensführung. Ein Individuum fühlt sich, so Foucaults These, bereits bei falscher Körperhaltung schuldig, da es von der neuen Norm abweicht. Es wird, zunächst unter Druck von außen, alles daran setzen, wieder zur Normalität zurückzukehren. Die Kontrolle kann einfach von den Mitmenschen ausgehen. Man braucht nicht einmal mehr den Überwachungsapparat des Panoptikums. Da es sich nicht mehr „gehört“, schief auf dem Stuhl zu sitzen, werden die anderen Kinder ihre Mitschüler darauf hinweisen, dass sie ihre Haltung begradigen sollten.

„Da die meisten Menschen nicht anecken wollen, halten sie sich von ganz alleine an die Regeln“

In die heutige Zeit übersetzt, könnte das Folgendes bedeuten: In den virtuellen sozialen Räumen des Internets dienen etwa Punktesysteme dazu, dass man sich an die dort gültigen Regeln hält. Wer die Regeln des Diskussionsforums einhält, bekommt Punkte und Privilegien, möglicherweise sogar einen besonderen Status. Wer die Regeln bricht, bekommt eine Verwarnung und wird nach und nach von anderen Mitdiskutanten ausgeschlossen. Da die meisten Menschen nicht anecken wollen, halten sie sich von ganz alleine an die Regeln. Hier wird das Wirken der Machtsubtilität deutlich, die in alle Räume – egal ob virtuell oder real – vordringen kann.

Was haben diese Zusammenhänge nun mit dem eingangs erwähnten Beispiel der diskutierten Verordnungen über den „Handflächenfreiraum vor der PC-Tastatur“ zu tun? Es geht ja nicht wirklich um mehr Freiraum für die Handflächen der Bürger. Bei der Beantwortung dieser Frage sind mehrere Faktoren zu berücksichtigen: Der Diskurs der Macht oder der Machtausübung dringt über solche Verordnungen in neue Räume vor und erschließt diese für sich. Wo vorher keine Regel galt, sind nun Vorschriften am Werk, die erst darüber nachdenken lassen, dass es etwas wie eine Freiheit der Handhaltung überhaupt gibt. Der Diskurs erzeugt möglicherweise Probleme, wo vorher keine waren, da sich niemand über solche Fragen Gedanken gemacht hat. Geistige Freiräume schafft die angedachte Verordnung zumindest nicht. Im Gegenteil: Durch sie würde es erst möglich, dass ein EU-Beamter in Brüssel Einfluss auf die Sitzhaltung eines Büroarbeiters in München nehmen kann.

Diese Form der Machtausübung wirkt unsichtbar. [4] Das Panoptikum dringt unsichtbar in unsere Lebensbereiche vor, die Subtilität wirkt geräuschlos. Hier geht die Machtausübung von den sich gegenseitig kontrollierenden Individuen aus, anstatt linear oder hierarchisch von einer bestehenden offensichtlichen Machtstruktur zu wirken. Der Machthaber wird unsichtbar, der Nachbar zum Polizisten. Es kommt immer besser an, sich in der Öffentlichkeit an eine Verordnung mit Schlagwörtern wie „Freiheit“ oder „Schutz“ zu binden. Kann diese Form des unsichtbaren Machtgebrauchs weitere Räume für sich gewinnen? Was kann man dagegen tun? Debattieren, aufmerksam bleiben und sich stets bewusst machen, wo Macht ausgeübt wird. Und ganz konkret: mit den Handflächen weiterhin machen, was man will.

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