01.11.2008

Weniger Staat - mehr Eltern!

Interview mit Maria Steuer

Maria Steuer, Kinderärztin und Vorsitzende des Familiennetzwerks, im Gespräch mit Sabine Beppler-Spahl über die staatliche Bevormundung von Eltern.

Novo: Wir haben in den letzten Jahren immer öfter von Fällen extremer Vernachlässigung von Kindern gehört. In diesem Zusammenhang ist das Schlagwort des „präventiven Kinderschutzes“ aufgekommen. Wie stehen Sie zu diesen Maßnahmen?

Maria Steuer: Generell gilt: Neue Gesetze sollten nicht auf der Basis von Verfehlungen einer kleinen Minderheit erlassen werden. Bisher ist z.B. die Effektivität von Pflichtuntersuchungen beim Kinderarzt zur Identifizierung gefährdeter Kinder noch nicht überprüft worden. Zum einen kostet das Rückmelde- und Überprüfungsverfahren der Pflichtteilnahme viel Geld, das woanders sinnvoller ausgegeben werden könnte, zum anderen wird der Arzt, eigentlich Vertrauensperson der Eltern, zum Helfer des staatlichen Wächteramtes. Zu wenig Beachtung findet die Tatsache, dass in den über die Medien bekannt gewordenen Fällen von extremer Vernachlässigung in der Regel das Jugendamt bereits eingeschaltet war. Hier wäre also der eigentliche Bedarf eine bessere Qualifikation der Mitarbeiter des Jugendamtes, um den einzelnen, wenigen Familien, in denen diese Extremform der Vernachlässigung vorkommt, wirklich gerecht zu werden.

Das Bild der Familie als Garant des Schutzes von Kindern hat sich gewandelt – und damit auch das Elternbild. Immer wieder ist die Rede von großen Interessenkonflikten zwischen Eltern und Kindern, die nur durch professionelle Hilfe und Intervention überwunden werden können. Manchmal wird sogar suggeriert, Eltern stellten eine Gefahr für ihre Kinder dar.

Die Medien berichten in aller Breite, meist auf der ersten Seite, über eine kleine Minderheit von Familien, deren Zahl im Übrigen rückläufig ist. Über glückliche Familien gibt es keine Zeitungsberichte. Einen guten Eindruck von der Schieflage zwischen veröffentlichter Meinung und öffentlicher Meinung vermittelt uns das Generationenbarometer des Vereins „Familie stark machen“: Dort geben Familien an, dass bei ihnen alles bestens sei, während sie glauben, dass dies bei den meisten anderen nicht der Fall sei. So bezeichnen 73 Prozent den Zusammenhalt in ihrer Familie als „stark“ oder sogar als „sehr stark“. In allen Schichten erinnern sich die Befragten mit großer Mehrheit an ein (sehr) gutes Verhältnis zu ihren Müttern in der Kindheit (zwischen 70 und 81 Prozent). Im Gegensatz zur Wahrnehmung in der eigenen Familie herrscht interessanterweise zugleich die Vorstellung, dass der Zusammenhalt in den meisten anderen Familien eher gering oder sogar sehr schwach sei (51 Prozent). Die Stabilität der „anderen“ Familien wird also weit unterschätzt. Großen Anteil an solchen Ergebnissen haben, neben der einseitigen Berichterstattung in den Medien, auch Expertenschätzungen über die abnehmende Erziehungsfähigkeit von Eltern.

Es gibt Beispiele dafür, wie von öffentlicher Seite, bewusst oder unbewusst, ein negatives Elternbild befördert wird: An der Schule meiner Tochter gibt es Aufklärungsunterricht. In der sechsten Klasse ist das Thema sexueller Missbrauch vorgesehen. Die Kinder werden von Mitarbeitern der verschiedenen Vereinigungen aufgesucht und erhalten auch Informationsmaterial. In diesen Broschüren wird den Kindern als Handlungsanweisung mitgegeben, dass sie sich im Falle eines Falles an eine Person ihres Vertrauens wenden sollen. Die angebotene Personenauswahl ist sehr groß, doch Eltern, die ja normalerweise die natürlichen Ansprechpartner sind, fehlen in der Aufzählung.

Für eine stärkere beratende Unterstützung von Eltern wird oft mit dem Argument geworben, alles müsse erlernt werden – für jeden Beruf bedürfe es einer Ausbildung. Warum sollte Elternschaft da eine Ausnahme sein?

In der heutigen Zeit ist Elternschaft leider nicht mehr selbstverständlich, und die Begleitung von jungen Familien durch die ältere Generation nimmt ab. Eltern benötigen Zuspruch und Zutrauen in ihre Möglichkeiten, die Signale ihres Babys zu deuten und entsprechend zu handeln. Statt Ratgeberbücher mit unnatürlichen Erziehungstechniken von selbst ernannten Experten zu lesen, sollten Eltern lediglich über die Entwicklung von Babys Bescheid wissen, um ihre eigenen Entscheidungen treffen zu können. Verunsicherte Eltern können in diesem Sinne, begleitet von beratenden Personen, sicherer im Umgang mit ihrem Kind werden. Aber den meisten Paaren gelingt es ohne Weiteres, ihre Elternschaft zu gestalten. Und eines kann auch die beste Berufsausbildung nicht leisten, bzw. lehren: die bedingungslose Liebe zum eigenen Kind.

Gegenüber dem Kinderschutz scheint der Schutz der Privatsphäre in den Hintergrund geraten zu sein. Wie können wir für mehr Sensibilität für den Schutz eines solch grundlegenden Bürgerrechts eintreten?

Dieser mangelnde Schutz der Privatsphäre entsteht durch die aufgebauschten Berichte über vernachlässigte Kinder und den Ruf nach mehr Kontrolle. Keiner möchte, dass Kinder sterben – tabuisiert wird, dass der Staat den Tod der Kinder nicht verhindern konnte: Der Staat hat versagt, trotzdem wird nach mehr Staat gerufen. Dies geht so weit, dass aus der Kultur des Hinsehens eine des Anzeigens geworden ist.

Manche Eltern empfinden das, was uns als Hilfe bei der Erziehung angeboten wird, als eine Form offenen oder subtilen Drucks. Der angekündigte Besuch einer Sozialarbeiterin wird von vielen Müttern eher resignierend hingenommen, nach dem Motto „Naja, ich habe ja nichts zu verbergen“. Was raten Sie Müttern in solchen Situationen?

Leider ist inzwischen die Gesetzeslage so geändert worden, dass der Rat, sich einer solchen Kontrolle zu verweigern, riskant geworden ist. Nach der Änderung des § 1666 BGB in diesem Jahr muss Eltern nicht mehr Versagen in der Erziehung nachgewiesen werden, sondern sie können mit einem Entzug des Sorgerechts bereits dann rechnen, wenn sie nicht gewillt sind, „Gefahren abzuwenden“. Die Interpretation, was Gefahren sind und was das Wohl des Kindes ist, bleibt dem Einzelfall überlassen, somit auch der Willkür. Eine Meldung des Statistischen Bundesamtes zeigt die gesellschaftlich veränderte Haltung zur Familie und deren Konsequenzen: Von 2006 auf 2007 stieg die Zahl der Sorgerechtsentzüge um 12,5 Prozent. Im Vergleich zu 2005 betrug der Anstieg sogar knapp 23 Prozent. Die Novellierung des § 1666 BGB bedeutet de facto, dass nicht mehr nur über die Ausübung („Betätigung“) der elterlichen Erziehung gewacht wird, sondern über deren „Qualität“. So wird die elterliche Verantwortung zwar nicht gemindert, aber definiert. Der Staat bestimmt mit, wie zu erziehen ist, und schafft sich so ein Optimierungsrecht, das ihm nicht zusteht. Auch hier ein Beispiel: In einem Interview erläuterte der Berliner Bildungssenator Jürgen Zöllner von der SPD, dass es der Zweck eigener Kinderrechte im Grundgesetz sei, die seitens des Staates als notwendig erachtete Förderung von Kindern, auch gegen den Willen der Eltern, durchsetzen zu können.* Es klingt zwar immer gut, Kinder fördern zu wollen, aber hier stellt sich ganz klar die Frage nach der Aufgabe, der Rolle und der Grenzen des Staates. Der Staat darf das „Kindeswohl nicht über die elterliche Bestimmung hinaus fördern“, wie Prof. Christian Hillgruber aus Bonn beim „Essener Gespräch“ 2008 gesagt hat.

Das Leitbild Ihrer Organisation ist: „Weniger Staat – mehr Eltern“. Was bedeutet das?

Wir sind der festen Überzeugung, dass idealerweise die Eltern die am besten geeigneten Erziehungsexperten für ihre Kinder sind. Sie sollten in ihrer Kompetenz gestärkt werden. Doch das Gegenteil geschieht. Mit den abenteuerlichsten Argumenten wird den Eltern Stück für Stück ihre Erziehungsverantwortung aus den Händen genommen. Suggestiv und durch dauernde Wiederholung glauben Eltern schließlich, dass ihre Kinder nur mithilfe von externen „Experten“ zu sozial kompetenten und gebildeten Erwachsenen geformt werden können. Mit aller Macht und mit viel Geld versucht der Staat, Einfluss auf die Erziehung von Kindern und die privaten Entscheidungen von Eltern zu nehmen. Zur Veranschaulichung ein Beispiel subtiler Beeinflussung privater Entscheidungen: Der Arbeitskreis „Neue Erziehung“ verteilt zum Beispiel kostenlos einen Elternbrief zur Geburt eines Kindes. Dort wird jungen Familien suggeriert, dass es – wie politisch gewollt – das Beste sei, sein Kind ein Jahr lang selber zu betreuen und es dann in eine Krippe oder einen Kindergarten zu geben. Wörtlich heißt es: „Aber zwei oder drei Jahre zu Hause bleiben, ohne Kollegen, Abwechslung durch den Beruf, selbst verdientes Geld?“ Wer traut sich da noch, öffentlich den Wunsch zu äußern, zu Hause bleiben zu wollen, um das eigene Kind selber zu erziehen?

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