25.06.2014

Tiere haben keine Rechte

Essay von Andreas Müller

Das Great Ape Project fordert „Grundrechte für Menschenaffen”. Tiere können jedoch keine Rechte haben. Sie sind unfähig die Rechte anderer zu achten und haben deshalb keinen Anspruch auf einen Platz in der Gemeinschaft der Gleichen

„Es sollte den großen Menschenaffen der gleiche moralische und gesetzlich zu schützende, das heißt auch einklagbare Status einer Person zukommen, der allen Menschen zukommt.“ So lautet das Ziel des Great Ape Project. [1] Der deutsche Psychologe Colin Goldner erklärt das Anliegen des Projekts in einem YouTube-Video. [2] Er wirbt darin auch für sein neues Buch Lebenslänglich hinter Gittern, das sich mit den „teils katastrophalen“ Haltungsbedingungen von Menschenaffen in deutschen Zoos befasst. [3] Goldner gelangt schließlich zu einem „leidenschaftlichen Plädoyer“ gegen Zoos als solche, wie es der Verlag in der Vorschau auf das Buch notiert. Nun spricht gewiss nichts dagegen, sich einmal kritisch anzusehen, wie artgerecht Affen in deutschen Zoos gehalten werden. Die Forderung nach Affenrechten schießt jedoch weit über das Ziel hinaus.

Ursprünglich wurde das Great Ape Project 1993 von den Philosophen Paola Cavalieri und Peter Singer auf die Beine gestellt. 2011 wurde es in Deutschland von der Giordano Bruno Stiftung neu aufgelegt, für die Colin Goldner nun die Initiative leitet. Ich hatte mein langjähriges Engagement für die Stiftung im Vorjahr beendet. Die Geburtswehen des Projekts hatte ich noch mitbekommen. 2012 hielt ich den Eröffnungsvortrag namens „Aufklärung 2.0“ für die Ringvorlesung „Wo steht der Mensch? [4]“ für die HTWK in Leipzig. Der Vortrag richtete sich unter anderem gegen Tierrechte. Colin Goldner war der nächste Redner auf der Liste. Ich konnte ihm also die Frage stellen, die mich auch hier nun beschäftigt: Ein „Recht“ ist ein moralisches Prinzip, das die Handlungsfreiheit eines Menschen in einem sozialen Kontext definiert und sanktioniert. Was hat das mit Tieren zu tun?

Rechte beruhen auf Gegenseitigkeit

Colin Goldner antwortete sinngemäß, dass es ihm nicht darum gehe, Pflichten für Affen einzufordern. Das beantwortet zwar nicht die Frage, ist aber aufschlussreich. Mit anderen Worten müssen Affen in der Welt, die sich das Great Ape Project vorstellt, keineswegs unsere Rechte, noch die Rechte ihrer Artgenossen oder die Rechte anderer Tiere respektieren. Was die Rechte anderer Tiere angeht: Der Biologe Volker Sommer, der auch für das Great Ape Project aktiv ist, bemerkte bei einem Vortrag in Würzburg, dass er das Projekt auch als „Einfallstor“ für die Rechte von anderen Tierarten verstehe. Affen können also weiterhin andere Affengruppen angreifen, wie es etwa Schimpansen tun, sie können Affenbabys töten und auffressen, sie können auch Zoowärter angreifen, sie können sich schlimmer verhalten als Jugendliche auf ihrer Abschlussfeier. Ausschließlich wir Menschen müssen die Rechte der Affen respektieren. Das Prinzip der Gegenseitigkeit, das eng mit dem Konzept der „Rechte“ verwoben ist, hat hier keine Geltung. Das ist bereits bei Tom Regan so, der die Tierrechtsidee in die Welt setzte.

„Affen können sich schlimmer verhalten als Jugendliche auf ihrer Abschlussfeier.“

Nun stellt man sich die Frage, warum wir die angeblichen Rechte von Affen oder auch von anderen Tieren wie Löwen überhaupt respektieren sollen? Angenommen, ein Kannibale bricht in Ihr Haus ein und verlangt, dass Sie seine Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit achten, während er genüsslich Ihr Bein zubereitet, kocht und aufisst. Sie würden doch dem verwirrten Mann nicht ihr Bein aufessen lassen, da Sie sich moralisch und politisch in der Pflicht sehen, das Recht des Kannibalen auf freie Entfaltung seiner Kochkünste zu respektieren, oder? Und doch befinden wir uns in der Situation, dass Menschen Petitionen für die Rechte von Tieren unterzeichnen, die keinerlei Gegenseitigkeit vorsehen. Wir sollen die Rechte von Affen respektieren – und Affen dürfen unserer Tochter den Schädel einschlagen, wenn sie ins Affengehege fällt. Das bedeutet es, Rechte zu haben, ohne zugleich die Pflicht zu haben, die Rechte anderer zu achten.

Nicht, dass der Gedanke missverstanden wird. Selbstverständlich können wir von Tieren keineswegs erwarten, dass sie unsere Rechte achten. Sie verstehen nicht einmal, was „Rechte“ sind. Andererseits verstehen auch viele Menschen mit einflussreichen Initiativen nicht, was Rechte sind, weshalb Spötter einwenden könnten, dass dies womöglich kein Kriterium sei. Allerdings sollten die Affen wenigstens verstehen können, dass sie ihre Artgenossen und ihre Wärter nicht angreifen dürfen, weil sie sonst dafür vor Gericht kommen und sich in einem fairen Prozess zu behaupten haben. Die Affen werden Beweise sammeln und Argumente ausarbeiten müssen, die ihre Unschuld oder wenigstens ihre kurzzeitige Unzurechnungsfähigkeit belegen. Vielleicht genügt es auch, wenn sie „die Gesellschaft“ oder ihre verwahrlosten Eltern, die mit Kot um sich werfen und Tiergartenbesuchern ihre Mützen klauen, für ihre Verbrechen verantwortlich machen. Der Medizinprofessor Carl Cohen erinnert daran, dass eine Handlung nur kriminell sein kann, wenn die schuldige Handlung, Actus reus, mit einem schuldigen Geist, Mens rea, verbrochen wurde. Auch das trifft auf Affen nicht zu, weshalb sie von menschlichen Anwälten vor Gericht vertreten werden sollen. Die Anwälte können sich dann stellvertretend für die Affen schuldig fühlen.

„Der Vergleich von Geistig Behinderten mit Affen ist in beinahe jeder Schrift von Tierrechtlern anzutreffen.“

Tatsächlich: Menschen sollen, geht es nach dem Great Ape Project, die Rechte der Affen einklagen. Cavalieri und Singer schreiben diesbezüglich: „Auf den Einwand, dass Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans nicht in der Lage sein werden, ihre eigenen Ansprüche innerhalb der Gemeinschaft zu verteidigen, erwidern wir, dass ihre Interessen und Rechte durch gesetzliche Vertreter in der gleichen Weise zu schüt­zen sind, wie die Interessen junger oder geistig behinderter Angehö­riger unserer eigenen Spezies.“ [5] Der Vergleich von Geistig Behinderten mit Affen ist in beinahe jeder Schrift von Tierrechtlern anzutreffen. Weiter unten folgt eine Replik darauf.

Der britische Philosoph Roger Scruton weist ebenso darauf hin, dass Rechte an Pflichten gebunden sind. Würde man Tieren Rechte zugestehen, so müsste man Forderungen an sie stellen, die sie nicht erfüllen können. „Katzen müssten das Recht auf Leben respektieren und Hunde das Recht auf Achtung der Privatsphäre. Und beide müssten für ihre Fehler bestraft werden.“ [6] Da Löwen von Natur aus andere Tiere töten, wären sie Mörder, die wir lebenslänglich einsperren müssten. Manche Lebewesen sind für die Tierrechtler also gleicher als andere – manche haben nämlich keine Pflichten zu erfüllen.

Hinter dem Gedanken, dass Tiere kein Unrechtsbewusstsein haben, während sie dennoch Rechtsträger sein sollen, steckt vielleicht ein verborgener Wunschtraum der Tierschützer. „Die Affen werden als Versionen unserer selbst neu erschaffen, gereinigt von der Schuld, die von dem Versuch herrührt, ein Leben wie unseres führen zu müssen, nämlich als moralisches und somit urteilendes Wesen.“ Ein Leben frei von Schuld, vom Urteilen müssen und womöglich gar von moralischer Verurteilung. Dieses Leben wünscht sich der Sprecher der Giordano Bruno Stiftung, Bestsellerautor Michael Schmidt-Salomon, auch für den Menschen. In seinem Werk Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind spricht er dem Menschen die Willensfreiheit ab und fordert, ihn nicht länger zu beurteilen. Den Menschen nennt er einen „nackten Affen“. [7]

Was sind Rechte?

Es gibt in der Philosophie und auch in der Politik reichhaltige Vorstellungen darüber, was Rechte sind. Die meisten Denker sind sich einig, dass nur Menschen Rechte haben können, aber die Menge und Arten der Rechte, die Menschen zugesprochen wird, nimmt immer mehr zu. 2010 erklärte die UN-Vollversammlung ein „Recht auf Wasser“ zum Menschenrecht. Wie andere Anspruchsrechte, etwa auf eine Wohnung oder einen Beruf, verpflichtet das Recht auf Wasser den Staat zu aktivem Handeln. Wenn jemand kein Wasser hat, muss ihm der Staat Wasser geben. Anspruchsrechte verurteilen den Menschen also zur unfreiwilligen Arbeit für andere Menschen. Die finanzieren schließlich, was der Staat tut. Wenn eine Person ein Recht auf eine Wohnung und auf Wasser hat, dann müssen andere Menschen produktiv tätig sein, um der Person eine Wohnung und Wasser zur Verfügung zu stellen. Das Problem dabei: Dies gilt, ob sie wollen oder nicht.

Die Forderung von Tierrechten verwundert bei einer solchen Verwirrung über die Natur von Rechten nicht mehr. Dabei sind Rechte, richtig verstanden, von höchster Wichtigkeit für den Menschen. Das Konzept der individuellen Rechte als sogenannte Abwehrrechte ist das einzig widerspruchsfreie Menschenrechtskonzept. Die amerikanische Philosophin Ayn Rand hat es näher präzisiert. Rechte sind demnach Existenzbedingungen, welche die menschliche Natur für ihr angemessenes Überleben erfordert. Das grundlegendste Recht ist das Recht auf Leben. Alle anderen Rechte sind aus diesem Grundrecht abgeleitet. Zu den abgeleiteten Rechten gehören das Recht auf Freiheit und das Recht auf Eigentum – will heißen, das Recht darauf, über das zu verfügen, was man erwirtschaftet hat. Der Mensch ist laut Aristoteles schließlich das „rationale Tier“. Das bedeutet, dass er denken muss, um zu überleben. Er muss seinen eigenen, individuellen Verstand frei gebrauchen dürfen, um die Natur zu erkunden (Wissenschaft), sie für sich zu nutzen (Technologie) und um die Werte, die er selbst erzeugt, mit anderen Menschen zu tauschen. Rechte sind die moralisch-politischen Prinzipien, die es dem Menschen erlauben, in einer Gesellschaft mit anderen Menschen wie ein Mensch zu leben.

„Ein ‚Recht‘ ist ein moralisches Prinzip, das die Handlungsfreiheit eines Menschen in einem sozialen Kontext definiert und sanktioniert.“

Die amerikanischen Gründungsväter teilten grundsätzlich diese Auffassung von Rechten. Thomas Jefferson schrieb in der Unabhängigkeitserklärung, der Mensch habe ein „Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück“. Leben hängt davon ab, dass Lebewesen selbst Handlungen einleiten, die sie am Leben erhalten. Der Mensch als rationales Lebewesen muss also das Recht haben, alles zu tun, „was die Natur eines rationalen Wesens für die Unterstützung, die Förderung, die Erfüllung und den Genuss seines eigenen Lebens erfordert“ (Rand). Menschen haben nur eine Pflicht, sofern sie nicht durch eigene Willensentscheidungen wie etwa, ein Kind in die Welt zu setzen, weitere Pflichten auf sich nehmen. Die eine natürliche Pflicht des Menschen in einer Gemeinschaft ist die Pflicht, die Rechte seiner Mitmenschen zu achten. Ein Mensch, der sein Leben lang auf einer Parkbank sitzt und Tauben füttert und der sich durch die Entlohnung für seinen gelegentlichen Auftritt als Pantomime ernährt, der tut bereits alles, was andere Menschen von ihm erwarten dürfen.

Ein „Recht“ ist ein moralisches Prinzip, das die Handlungsfreiheit eines Menschen in einem sozialen Kontext definiert und sanktioniert. Es besagt also, was der Mensch gegenüber anderen Menschen nicht tun darf – nämlich ihre Rechte verletzen. Die Details werden vom Gesetzgeber näher bestimmt. Leider ist der Gesetzgeber inzwischen soweit über seine Befugnisse hinausgegangen, dass niemand mehr weiß, wozu er ursprünglich einmal da war. Als ich in einem Seminar fragte, ob jemand die grundsätzliche Aufgabe des Staates in einem Satz benennen könnte – nämlich unsere Rechte zu schützen – so erhielt ich die Antwort: „Wie lange darf der Satz denn sein? Man könnte ja allerlei Nebensätze anhängen.“ Ja, man könnte – und wir alle sind nun Zeuge, was passiert, wenn man es tut. Und wir werden Zeuge sein, was passieren wird, wenn die Nebensätze ein noch größeres Ausmaß annehmen.

Tierrechte und „menschliche Grenzfälle“

Die Vertreter von Tierrechten nutzen so gut wie alle das sogenannte „Marginal Humans“-Argument. Es geht um Menschen, die angeblich gerade so Menschen sind oder vielleicht auch noch nicht oder nicht mehr. Zu diesen Menschen werden Säuglinge, Kleinkinder, senile alte Menschen und Geistig Behinderte gezählt. Mit diesem Argument greifen die Tierrechtler ein klassisches Kriterium an, das erfüllt sein muss, damit ein Lebewesen Rechte haben kann: Die Vernunft. Die Vernunft ist das Vermögen, die Sinneseindrücke zu identifizieren und sie in unser übriges Wissen konzeptuell zu integrieren. Wir erreichen Wissen ausschließlich durch den Gebrauch unserer Vernunft. Wir denken in Begriffen – konzeptuell. Dieses Vermögen erlaubt es uns, über Moral zu sprechen, Moral zu verstehen und uns moralisch zu verhalten. Wenn wir keine Vernunft haben, haben wir keine Rechte. Angeblich sprechen wir aber Menschen Rechte zu, die keine Vernunft haben. Also, so sagen die Tierrechtler, sollten wir auch Tieren Rechte zusprechen. Wenn wir schon inkonsequent sind, dann sollten wir konsequent inkonsequent sein.

Peter Singer formuliert das Dilemma wie folgt: „Falls wir die Überzeugung nicht ablehnen wollen, dass es falsch ist, intellektuell schwer behinderte Menschen zum Zwecke der Nahrungsgewinnung zu töten, dann müssen wir auch die Überzeugung ablehnen, dass es in Ordnung ist, Tiere auf demselben geistigen Entwicklungsstand und zum selben Zweck zu töten.“ [8] Das Argument hat eine verführerisch logische Form, doch hängt die Qualität eines Arguments auch von der Wahrheit seiner Prämissen ab. Kann man Menschen und Tiere überhaupt gleichsetzen, selbst wenn sie einzelne Eigenschaften teilen? Ich meine, dass man dies nicht kann und dass der Glaube, man könne es doch, weltfremd ist. Dies sage ich nicht nur aus philosophischen Überlegungen heraus, sondern auch aus persönlicher Erfahrung mit senilen alten Menschen und mit geistig Behinderten. Mein Bruder leidet unter einer schweren Form des Autismus. Meine Großmutter litt unter Parkinson. Und als Zivildienstleistender habe ich ebenso reichlich Erfahrung mit alten, senilen Menschen sammeln dürfen, um zuversichtlich sagen zu können, dass man sie nicht mit Tieren gleichsetzen kann. Es gibt also nicht so etwas wie „denselben geistigen Entwicklungsstand“, der auf einmal aus Menschen Tiere machen könnte.

„Der Mensch ist von Natur aus das rationale Tier.“

Der Mensch ist von Natur aus das rationale Tier – also eine Art von Lebewesen, das man nicht mit anderen Tieren vergleichen kann. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das konzeptuell denkt und somit nicht nur auf seine unmittelbaren Sinneseindrücke angewiesen ist. Im Gegensatz zu nicht-rationalen Tieren hat der Mensch keine Instinkte in dem Sinne, dass er automatisch bestimmte Handlungen ausführen würde. Der Mensch muss sich bewusst zum Handeln entscheiden. Er versteht die Welt begrifflich, anhand von Wörtern. Das gilt auch für Geistig Behinderte und für senile, alte Menschen. Die meisten Menschen werden aus eigener Erfahrung wissen, dass ihre Oma kein Tier ist. Darum werde ich im Folgenden ein anderes Beispiel näher erläutern.

Mein jüngerer, erwachsener autistischer Bruder kann nicht richtig sprechen. Er sagt selten einmal einen verständlichen Satz, wenn er äußerst aufgebracht ist. Er versteht allerdings fast alles, was wir zu ihm sagen. Alle nicht allzu komplexen oder abstrakten Sätze und Zusammenhänge kann er verstehen. Und er kann die Anordnungen, die wir ihm geben, ausführen. Er ist also vernunftbegabt und denkt in Begriffen. Wie für Autisten üblich hat er einen streng festgelegten Tagesrhythmus. Wenn etwas an dem Tagesablauf durcheinandergerät, regt er sich manchmal sehr auf. Dann schlägt er sich selbst. Er hat jedoch in seinem ganzen Leben noch nie einen anderen Menschen geschlagen oder anderweitig verletzt – nur er selbst und unbelebte Objekte werden Opfer seiner Wutanfälle. Auch hat er noch niemals etwas gestohlen. Mein Bruder respektiert also zweifellos die Rechte seiner Mitmenschen. Und er tut dies sogar viel konsequenter als andere Menschen, die in der Regel wenigstens in ihrer Kindheit oder Jugend irgendwann einmal einen Menschen im Streit geschlagen oder etwas geklaut haben. Mein Bruder ist allerdings zum Überleben auf andere Menschen angewiesen. Er hat somit Anspruchsrechte seiner Familie gegenüber, die sich aus der Entscheidung meiner Eltern ergeben haben, ihn auf die Welt zu bringen. Nur hier können Anspruchsrechte ins Spiel kommen – als Resultat freier Willensentscheidungen. Er arbeitet zwar in einer Behindertenwerkstatt, aber sein Lohn würde nicht zum Leben reichen. Außerdem schaut er nie nach Autos, wenn er über die Straße geht.

Tierisches Nachplappern und menschliches Sprachverständnis

Ist mein geistig schwer behinderter Bruder also ein „menschlicher Grenzfall“, den man mit höher entwickelten Tieren vergleichen kann? Gewiss nicht. Wie andere Menschen kann mein Bruder konzeptuell denken, er versteht also den Zusammenhang zwischen Wörtern und Dingen in der realen Welt. Ein Beispiel: Ihm liegt viel daran, Computerspiele eigenständig zu bewältigen und er kommentiert manchmal seine Fortschritte. Da er weiß, dass die Aufgaben prinzipiell lösbar sind, steigert er sich bei wiederholtem Scheitern so hinein, dass er anfängt, ganze Sätze zu sprechen. Darunter: „Das ist zu schnell!“ oder „Bumm! Da bist du tot!“ – wenn die Spielfigur zu schnell läuft oder gegen eine Wand rast. Er versteht also, wovon er redet, während Tiere nur auf Geräusche reagieren und damit assoziierte, antrainierte Bewegungen ausführen, etwa „Hol Stöckchen!“. Mein Bruder hingegen kann eigene Ideen sprachlich ausdrücken. Er verortet sich selbst, und sogar virtuelle Spielfiguren, begrifflich in der Welt.

Die Sprachfertigkeiten von Laboraffen schaffen es immer wieder in die Schlagzeilen. Vieles spricht dafür, dass diese von Tierrechtlern wie Peter Singer grob überinterpretiert werden. Affen können den Zusammenhang zwischen Dingen in der realen Welt und Symbolen auf der Tastatur auswendig lernen. Ihr Gedächtnis hat sich dabei als sehr gut erwiesen. Von „Verstehen“ kann aber keine Rede sein. Sie wissen, dass sie eine Banane bekommen, wenn sie auf bestimmte Tasten klicken – wie es die Forscher vorgemacht haben. Könnten Affen Sprache wirklich verstehen, dann könnten sie wie Menschen denken. Könnten Affen wie Menschen denken, dann könnten sie nicht nur auf Knöpfchen drücken, sondern sie hätten schon längst kulturell entwickelt. Dann wären sie in der Lage, kausale Erklärungen zu suchen. Sie könnten Wissenschaft betreiben oder sie würden zumindest natürliche Phänomene auf das Wirken der Götter zurückführen. Affen tun jedoch überhaupt nichts, was sie fundamental von anderen Tieren unterscheiden würde. Sie haben nicht einmal eine primitive Wissenschaft, noch eine darauf aufbauende Technologie – wie ein Zelt oder Kleider aus Tierhäuten –, noch beten sie Götter an. Sie bleiben immer auf demselben Entwicklungsstand. Das ist ein deutliches Zeichen, dass sie zu konzeptuellem Denken eben nicht fähig sind. Die sogenannten „Menschenaffen“ sind am Ende auch nur Tiere.

„Affen haben keine Gebäude errichtet, keine Kochrezepte geschrieben, keine verschiedenen Arten von Toilettenpapier entworfen“

Menschenaffen lernen in freier Natur von ihren Eltern gar nichts, nicht einmal Nüsse knacken. Die führenden Primatologen David und Ann Premack haben dies nach jahrzehntelanger Beobachtung festgestellt. Der Mangel an begrifflichem Denkvermögen ist auch der Grund, dass sie sich nie kulturell entwickeln. Affen haben keine Gebäude errichtet, keine Kochrezepte geschrieben, keine verschiedenen Arten von Toilettenpapier entworfen, ihre Sexualpraktiken in keinem Kamasutra notiert. Sie kennen kein romantisches Dinner, keine Zeitung oder auch nur mündliche Erzähltraditionen, keine Sportarten oder Spielplätze. Affen erzählen keine Geschichten – für den Schriftsteller Terry Pratchett sind wir gar der „Geschichten erzählende Affe“. Affen folgen schlicht und ergreifend ihren Instinkten, wie andere Tiere auch. Wie Biber, die Dämme bauen und Vögel, die Nester basteln, kennen manche Schimpansen einen Trick: Stöcke spitzen, um Termiten zu angeln. Sie bauen niemals auf diesem Wissen auf und entwerfen etwa Äxte, Pfeil und Bogen oder eine Feuerstelle zum Grillen. Es gibt also einen grundsätzlichen und absoluten Unterschied zwischen Menschen und Tieren. Menschen sind zwar ebenso Geschöpfe des natürlichen Evolutionsprozesses, aber wir haben uns von unseren Ursprüngen emanzipiert.

Eine Gemeinschaft der Gleichen

Angesichts seiner spezifischen Natur haben mein Bruder sowie andere geistig Behinderte tatsächlich einen besonderen Rechtsstatus. Mein Bruder benötigt kein Recht, seine Meinung in Wort und Schrift frei zu äußern, weil er dazu gar nicht in der Lage ist. Er benötigt kein Recht auf freie Berufswahl, weil er nur einfache Handwerkstätigkeiten ausführen kann – wenn er eine Aufgabe nicht beherrscht, nehmen andere Menschen selbstverständlich darauf Rücksicht. Er braucht kein Wahlrecht, weil er von Politik nicht die blasseste Vorstellung hat. Andere Menschen müssen viele seiner Rechte für ihn wahrnehmen. Könnte sich mein Bruder seine Nahrung uneingeschränkt frei auswählen, stünde nur noch Schokoladentorte auf dem Programm, also müssen wir das für ihn tun. Er ist also nicht in jeder Hinsicht so wie andere Menschen, aber er ist doch eindeutig ein Mensch und kein Tier. Er kann mit den vollständigen Rechten eines mündigen Bürgers nichts anfangen, aber er hat doch eindeutig Rechte. Dasselbe gilt grundsätzlich auch für Menschen mit noch schwerwiegenderen Behinderungen und ebenso für Kleinkinder und senile Menschen.

Im Gegensatz zu Tieren gehört mein Bruder außerdem zum „sozialen Kontext“, der in Ayn Rands Definition von Rechten genannt wird – zu einer Gemeinschaft mit anderen Menschen. Er ist auf eine Weise ein Teil der Familie, wie ein Haustier niemals ein Teil der Familie sein könnte. Abergläubische Menschen, die in ihren Hunden und Katzen mehr sehen, als wirklich da ist, mögen ihre Haustiere ebenso zur Familie zählen wie ihre Kinder oder Geschwister – aber sie sind einer Illusion unterlegen, der Vermenschlichung von Tieren.

Menschen sind keine Tiere

Menschen sind eine grundsätzlich andere Lebensform als Tiere. Menschen mit bestimmten Behinderungen sind noch immer Menschen. Sie sind nicht auf einmal mit Tieren vergleichbar, nur weil sie eine Behinderung haben. Menschen sind von Natur aus rational, also eine Lebensform, die nicht nur in einer physischen, sondern auch in einer geistigen Welt voller Ideen und Begriffe existiert. Derweil nehmen Tiere die Welt nur perzeptuell wahr – sie sehen, was vor ihnen ist und handeln ihren Instinkten gemäß.

Nun sollen zum Beispiel Kleinkinder bestimmte Eigenschaften wie Autonomie oder Sprache noch nicht mit erwachsenen Menschen teilen, weshalb auch sie gerne mit Tieren verglichen werden. Bei Kleinkindern ist die Notwendigkeit von Schutzrechten besonders offensichtlich. Kleinkinder sind biologisch unabhängige, individuelle Lebensformen, die das Vermögen zum begrifflichen Denken selbstverständlich besitzen. Sie lernen gerade, wie sie ihr natürliches Vermögen gebrauchen müssen. Sie lernen Denken und Sprechen.

Kleinkinder gehören zu einer Gemeinschaft. Sie sind die Kinder eines stolzen Vaters, für den sie einen zusätzlichen Lebenssinn bedeuten. Sie motivieren ihn, für das Kind zu sorgen. Der Vater stellt sein Leben um, er nimmt eine neue Rolle als Vater an. Kleinkinder sind auch die Kinder einer Mutter, die erfahren hat, wie der Säugling in ihrem Bauch gewachsen ist, die sich einen Namen für das Kind überlegt hat, die schon in der Schwangerschaft einige Kompromisse einging, um das Kind zu behüten. Tierrechtler lösen den gesamten Kontext auf. Sie tun so, als gäbe es hier ein Lebewesen namens „Affe“ und dort ein Lebewesen namens „Kleinkind“, diese haben bestimmte, willkürlich ausgewählte Eigenschaften gemein, also sollte man ihre vergleichbaren Interessen gleichermaßen berücksichtigen oder ihnen ebenso Rechte zusprechen. Das geht an der Realität vorbei. Die Tierrechtler spielen den Umstand herunter, dass Menschen in einer von bewusst verhandelten Gesetzen, Regeln, Institutionen und nicht zuletzt persönlichen Bindungen geprägten Gemeinschaft zusammenleben, in einer Welt der Ideen – während Tiere ihren Instinkten folgen und in einer Welt der Konkreta existieren.

Fazit

Wenn Colin Goldner Zoos daraufhin überprüft, ob die Affen darin artgerecht gehalten werden, dann ist das ein journalistisches Verdienst – jedenfalls, wenn er seine Ergebnisse wahrheitsgetreu darstellt. Niemand möchte im Zoo verhaltensgestörte Affen besuchen. Ohne die mystische Forderung von Tierrechten wäre das Projekt allerdings überzeugender gewesen.

„Der Mensch muss sich zum Leben entscheiden, während Tiere automatisch ihren Instinkten folgen.“

Tiere haben keine Rechte. Menschen und Tiere sind zwar gleichermaßen durch die natürliche Evolution entstanden, aber es gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Dieser Unterschied ist das menschliche Vernunftvermögen, das den Menschen befähigt, Moral und Rechte zu verstehen und die Rechte seiner Mitmenschen zu achten. Der Mensch erfasst die Welt begrifflich, lebt mit anderen gemeinsam in einer Ideenwelt und Tiere tun dies nicht. Der Mensch muss sich zum Leben entscheiden, während Tiere automatisch ihren Instinkten folgen. Vergleiche zwischen Menschen und Tieren sind substanzlos, auch wenn von Geistig Behinderten, Kleinkindern oder senilen Menschen die Rede ist. Diese können sich lediglich nicht gegen solche Vergleiche wehren.

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