04.02.2011

Sieg für das ägyptische Volk!

Analyse von Brendan O’Neill

Die Massen auf den Plätzen in Ägypten wollen offenbar, dass Mubarak abtritt, aber der diffuse Charakter der Revolte bedeutet auch, dass keiner weiß, wie es dann weitergehen soll.

Millionen von Menschen sind in den letzten Tagen mutig gegen das Mubarak-Regime auf die Straße gegangen. Auch am heutigen Freitag, von den Protestierenden „Tag des Abgangs“ getauft, sind wieder Hunderttausende auf den Straßen. Sie fordern den sofortigen Rücktritt der von Washington unterstützen Autokraten-Clique, um endlich mehr Freiheit und demokratische Selbstbestimmung zu gewinnen. Mubaraks Zugeständnisse bisher - Entlassung seiner Regierung, die Installation eines Vize-Präsidenten, ein paar politische Reformen und seine Ankündigung, bei den im September anstehenden Wahlen nicht mehr kandidieren zu wollen – gehen den ägyptischen Massen nicht weit genug. Das zeigt der ebenso unmissverständliche wie moderne Slogan, der dem Ancien Régime auf vielen Plakaten entgegenblickt: “Game over”.

Auch wenn die Proteste eine Geschichte erzählen, die so alt ist wie die Geschichte selbst, nämlich dass Menschen Freiheit wollen und bereit sind, dafür auch große Risiken einzugehen, lehren sie uns viel über die politische Welt von heute. Die oft widerspruchsvolle Suche nach historischen Analogien für den Aufstand in Ägypten zeigt die allgemeine Verwirrung über diese Ereignisse. Manche Beobachter sprechen von einem „Berliner Mauer-Moment” in der arabischen Welt, andere meinen, dass sich am Suez-Kanal gerade die Ereignisse des Jahres 1979 im Iran wiederholen. In dieser verständlichen Unfähigkeit, die Ereignisse historisch einzuordnen, schimmert vielleicht die Ahnung auf, dass die Ereignisse in Ägypten - zuvor in Tunesien und als nächstes vielleicht im Jemen und in Jordanien - möglicherweise einen ganz neuen Abschnitt der Politik in der arabischen Welt und dem Nahen Osten markieren - eine Etappe von Aufständen, die sehr viel unberechenbarer und weniger stark von klaren Interessengegensätzen geprägt sein könnte als frühere politische Umwälzungen.

Vielleicht das Auffälligste am ägyptischen Aufstand ist der Mangel an Führungspersönlichkeiten. Dies gilt für beide Seiten: sowohl für die dekadente Spitze der ägyptischen Politik als auch für “die Straße”. Die Proteste haben nicht nur das schwache Fundament der politischen Autoritäten in Ägypten offengelegt, sondern auch das Schwinden des amerikanischen Einflusses im Nahen Osten. Dass die Demonstranten Mubaraks Regime so schnell in die Defensive drängen konnten, hat sogar progressive ägyptische Beobachter überrascht. Einer zeigte sich erstaunt, “wie einfach es ist, einem Diktator zu sagen, dass es an der Zeit ist, zu gehen”. Relativ schnell wurde klar, dass das Regime zum Machterhalt ganz auf bewaffnete Einheiten, Manipulation der politischen Agenda und Desorientierung des eigenen Volks angewiesen ist. Mubarak, der so lange im Westen als Ägyptens starker Mann galt, sieht sich nun genötigt, vage Rücktrittsankündigungen abzugeben und zugleich entlassene Kriminelle und bezahlte Schlägertrupps auf die Demonstranten loszulassen, um „die Straße“ zu beschwichtigen und/oder einzuschüchtern.

Die offenkundige Schwäche und innere Auszehrung des Regimes regen die Proteste weiter an. Mubaraks wirre Reaktionen sind eine Einladung an die Demonstranten, den Druck für Reformen und den Abtritt des Präsidenten zu verstärken. Die Protestbewegung will Freiheit, ist aber diffus und richtungslos. Es fehlt an Vorstellungen darüber, wie und durch wen ihre Wünsche verwirklicht werden sollen. Der arabische Beobachter Amr Hamzawy pricht vom “völligen Fehlen der ideologischen Rhetorik, die Ägyptens politischen und öffentlichen Raum jahrzehntelang prägte.“

Tatsächlich zeichnen sich die beiden großen sozialen Bewegungen, die in den letzten Jahrzehnten maßgeblich um Einfluss in den arabischen Ländern stritten – die progressive Linke und der konservative Islamismus – vor allem durch ihr Nichterscheinen im Aufstand aus. Hamzawy sagt: ” Es haben zwar Aktivisten kleinerer linksgerichteter Organisationen am Aufstand teilgenommen, aber es fehlten die sonst üblichen Anschuldigungen gegen Imperialismus, Kolonialismus und Zionismus.” Und ja: “Auch die Muslimbruderschaft hat mit ihrer Jugend und einigen ihrer Führer an den Protesten teilgenommen, aber auch hier fehlten die sonst üblichen “Der Islam ist die Lösung“-Botschaften.  So haben die Proteste nicht nur Mubaraks mangelnde Legitimität offengelegt, sondern auch die Schwäche der Linken und des politischen Islam. Dass bislang keine Persönlichkeit oder kohärente politische Kraft die Führung der Proteste übernehmen konnte, ist aufschlussreich. (Und nein, Mohamed El Baradei, der ehemalige UN-Inspektor frecher Staaten der Dritten Welt, die es wagen, Kernmaterial zu besitzen, ist kein “Anführer der Proteste”, so sehr manche westliche Medien sich das auch wünschen mögen. Er versucht bloß, aus dem Protest sein eigenes politisches Süppchen zu kochen.)

Und dann gibt es noch Washington -  vielleicht der verwirrteste aller Figuren auf dem Brett. Der Aufstand dokumentiert, dass Amerika die Fähigkeit zur Führung oder wenigstens zu sinnvoller Einwirkung auf die Politik im Nahen Osten abhanden gekommen ist. Washingtons Beamten treten mehr oder weniger nur noch als staunende Zuschauer in Erscheinung. Die offizielle amerikanische Sicht auf die Welt scheint der Wirklichkeit zudem wohl etwa 30 Jahre hinterher zu hinken. Präsident Obamas Haltung gegenüber dem Aufstand wird allgemein als sein “Schah Erlebnis” bezeichnet - in Anlehnung an Präsident Jimmy Charters Umgang mit dem Schah von Persien, kurz bevor dieser in der iranischen Revolution von 1979 gestürzt und durch eine islamische Führung ersetzt wurde. Den Iran des Jahres 1979 als Referenzpunkt für die Ereignisse in Ägypten heute zu sehen, zeigt, wie abgekoppelt Washington von den realen Weltentwicklungen ist. Seine Politik scheint mehr durch eigene Alpträume aus der Vergangenheit bestimmt als durch auch nur entfernt intelligenten politischen Sachverstand.

Denn der Islamismus ist ein inzwischen ziemlich verbrauchtes politisches Phänomen. Nur Realitätsverweigerer können annehmen, die in Ägypten heute zwar sehr einflussreiche Muslimbruderschaft sei noch immer eine radikale Organisation, die Ägypten in ein Iran des Jahres 1979 oder gar ein Taliban-Afghanistan verwandeln könnte. Wäre das wirklich der Fall, wieso distanziert sich dann die Muslimbruderschaft weitgehend von den Straßenkämpfen und setzt stattdessen auf den UN-Langweiler ElBaradei? Vernünftige Beobachter haben in den letzten Jahren auf das Scheitern des politischen Islam aufmerksam gemacht; er sollte nicht so sehr als ein tödlicher Gegner des Westens verstanden werden, sondern eher als ein System, dass westliche Modernisierungsimpulse und Politikformen mit Versatzstücken traditioneller Religion und Kultur kombiniert. Selbst der Neofundamentalismus von Organisationen wie al-Qaida ist Ausdruck der Agonie des politischen Islam. Wie Fawaz Gerges schrieb, „fiel der Aufstieg des modernen Dschihadismus zeitlich mit dem Niedergang des religiösen Nationalismus zusammen“.

Washingtoner Beamte und Kommentatoren, die den Aufstand zwar begrüßen, aber eine Machtübernahme der Muslimbrüderschaft fürchten, offenbaren damit ein letztlich irrationales Verhältnis zur Wirklichkeit und tiefe Angst vor Massenbewegungen für Veränderung. Wenn Menschen muslimischen Hintergrunds lärmen und demonstrieren, sehen manche darin schon den Vorschein einer Tyrannei im Stile der Taliban. Hillary Clintons Warnungen vor einem „Vakuum“ in Ägypten, Obamas Telefonate mit Mubarak und die hektischen Bemühungen der US-Regierung, im Hintergrund eine neue Regierung ohne Mubarak und unter Einschluss der Opposition, aber weiter unter Führung der alten Garde Mubaraks zu basteln, liefern einen lebhaften Eindruck der Panik und Impotenz, die Amerikas Umgang mit dem Nahen Osten zunehmend bestimmen.

Wir enden mit der Einschätzung, dass es sich um unberechenbare Ereignisse handelt, von denen sich schwer sagen lässt, ob sie sich in eine progressive oder reaktionäre Richtung entwickeln werden. Das Fehlen politisch bewusster Ziele drückt sich auch in den Fragen nach der Haltung des Militärs aus. Ein radikaler Blogger schrieb: “Die Armee wird entscheiden müssen – auf die Demonstranten schießen oder Mubarak stürzen”. Das Fehlen linker Ideologie, die relative Unsichtbarkeit der Islamisten, die amerikanische Angst vor einem “Vakuum” – all das zeigt nicht nur, dass die Ägypter genug haben von der alten Ordnung, sondern auch, dass die Welt sich enorm verändert hat und weiter ändern wird. Was wird wohl als nächstes geschehen?

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