04.04.2012

Malthus ist tot, es lebe der Malthusianismus!

Analyse von Brendan O’Neill

Der Vordenker der Überbevölkerungstheorie, Thomas Malthus, war ein Rassist und Misanthrop. Aber seine inhumanen und überholten Thesen sind immer noch populär

Seit einigen Jahren greifen vor allem im englischen Sprachraum auch vermehrt Intelektuelle aus der Ökobewegung den engstirnigen Malthusianismus ihrer grünen Zeitgenossen an. Werk und Person des an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wirkenden Pastors und Ökonomens Thomas Malthus, dem ersten großen Panikmacher in puncto Bevölkerungswachstum, werden ebenso kritisiert wie dessen heutige Epigonen in der Lobby für Bevölkerungskontrolle. Während hierzulande viele Öko-Aktivisten den Misanthropen Malthus bereitwillig in ihre Ahnengalerie aufnehmen - jüngst etwa Daniel Knop, der sich in seinem düsteren Werk Experiment Mensch ohne ein kritisches Wort auf Malthus „außerordentliche Weitsicht“ beruft, um seine These von einer auf Grund von Überbevölkerung auf einen Abgrund zurasenden Menschheit zu untermauern - zeigen sich in Großbritannien populäre Köpfe der Öko-Bewegung wie George Monbiot oder Andrew Simms besorgt wegen Malthus‘ hoher Popularität.

Auch das 2010 erschiene Buch Peoplequake von Fred Pearce reiht sich hier ein. Pearce verspottet darin nicht nur den hasenschartigen Pastor und dessen bizarren Hass auf die Armen. Er kritisiert auch aktuelle Bestrebungen zur Regulierung der Weltbevölkerung und hinterfragt die Vorstellung eines überbevölkerten Afrika. So könnte man auf den ersten Blick durchaus versucht sein, das Buch als eine Verteidigung rationalen Denkens gegen menschenverachtende Hysterie aufzufassen. Das wäre jedoch unangebracht. Pearce unterscheidet sich keineswegs von anderen grünen Intellektuellen. Er erklärt Malthus lediglich für tot, weil er den Malthusianismus fortleben lassen will und beschäftigt sich mit dem historischen Phänomen des Malthusianismus nur, weil er wenigstens ein paar Vorurteile retten will, um sie auf die heutige Welt anwenden zu können.

Thomas Malthus: Wirken und Person

Malthus war ein gelinde gesagt zweifelhafter Denker. Seiner Ansicht nach sollte man den Armen die Mildtätigkeit und die Gesundheitsversorgung verweigern: Wenn sie stürben, sei das nur umso besser, denn sie hätten „nicht das mindeste Recht, irgend einen Teil von Nahrung zu verlangen“. Mit derart kruden elitären Vorstellungen wollen wenige Grüne in Verbindung gebracht werden, und natürlich wissen sie auch, dass der faktische menschliche Fortschritt die Panikmache der Malthusianer seit Malthus wiederlegt hat. Daher wird eine neue Perspektive entworfen, die man als post-malthusianischen Malthusianismus bezeichnen könnte.

Weltruhm erlangte der im englischen Surrey lebende Thomas Malthus (1766-1834) mit der Veröffentlichung seines Essay on the Principles of Population im Jahr 1798. Laut Pearces Zusammenfassung sagt Malthus: „Die Überbevölkerung ist einige ständige Bedrohung, denn die arbeitenden Massen sind in der Tretmühle aus Sex und Fortpflanzung gefangen“. Da es für die armen und verlumpten Tropfe, die aus dieser hemmungslosen Kopulation hervorgehen, schlicht nicht genug zu essen gebe, müssten sie halt durch Hunger und Krankheit sterben, so Malthus.

Seine Vision war „einfach, düster und verheerend“, so Pearce, und sie hatte katastrophale Auswirkungen auf die Armen weltweit. Pearce zufolge lehrte Malthus 1805 als Beschäftigter des Kapitalismusgiganten East India Company „die künftigen Verwalter des British Empire die Schrecken der Überbevölkerung und die Sinnlosigkeit der Mildtätigkeit“. Und der australische Demograph Jack Caldwell schreibt: „Malthus hat dafür gesorgt, dass Generationen britischer Beamter und Studenten die Welt in malthusianischen Begriffen sahen“ – also als das Gewimmel der sich übermäßig vermehrenden Armen, für die laut Malthus beim „großen Gastmahle der Natur […] durchaus kein Gedecke“ gelegt ist und die man daher ohne weiteres an Hunger und Krankheit sterben lassen kann.

In Großbritannien wirkten sich die malthusianischen Argumente überaus negativ auf die Armen aus. Angesichts der zahlreichen schlechten Ernten in den 1830er Jahren und der Massenentlassungen von Arbeitern durch die Industriellen geriet ein Zehntel der britischen Bevölkerung in Abhängigkeit von Zuwendungen im Rahmen des Armengesetzes. Aber, fragte Malthus, wie kann der Mensch ein Gesetz aufstellen, das den Naturgesetzen widerspricht? Ließe man der Natur freien Lauf, käme es unvermeidlich und vielleicht recht willkommen zu einer Ausmerzung der Armen. Er war ein lautstarker Befürworter des 1834 verabschiedeten Neuen Armengesetzes, das die Armenfürsorge stark reduzierte und die Arbeitshäuser „so weit wie möglich den Gefängnissen anglich“. Nach Aussage eines damaligen Parlamentariers zwang diese Änderung „die Armen zur Emigration, zur Arbeit für niedrigere Löhne oder zum Essen von schlechten Nahrungsmitteln“. Die Masse erkannte die menschenverachtende Ideologie hinter dieser von oben verordneten Notlage und bezeichnete das geänderte Gesetz als „Malthus’ Gesetz“. Der humanistische Essayist William Hazlitt beschuldigte Malthus, er lasse „die Kinder der Armen sterben, um die Pferde der Reichen zu füttern“.

Malthus im historischen Kontext

Pearce ordnet Malthus durchaus in den historischen Kontext ein, denn er schreibt, Malthus Traktat sei eine Reaktion auf zwei Revolutionen – die industrielle und die französische – und zwar insbesondere auf letztere und ihr Versprechen von Freiheit, Gleichheit und (so Malthus) auf sonstiges „libertäres Gerede“. Seine historische Einordnung von Malthus bleibt jedoch stark hinter derjenigen zurück, die der russische Marxist und Revolutionär Isaac Ilyich Rubin in seiner 1929 erschienenen Arbeit A History of Economic Thought geleistet hat. Malthus war bemerkenswerterweise Mitglied des Landadels, also derjenigen gesellschaftlichen Klasse, die sowohl durch das Wachstum einer zunehmend urbanen Arbeiterklasse zutiefst beunruhigt war, als auch durch die gewagten Ideen der radikalen Bourgeoisie. Insbesondere war der Adel durch die Jakobiner alarmiert, die das bourgeoise Versprechen von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ durch Abschaffung der alten Privilegien und Autoritäten verwirklichen wollten. In dem Jahrzehnt des Erscheinens von Malthus Bevölkerungsessay hatten die Jakobiner im revolutionären Frankreich die Macht ergriffen, und ihre Sympathisanten in England wurden wegen der Verbreitung aufrührerischer Schriften verhaftet. The Rights of Man von Thomas Paine wurde verboten und in Großbritannien sogar verbrannt. Der Essay von Malthus war laut Rubin „eine Reaktion auf die bourgeoise Aufklärung“ und insbesondere auf „den sozio-politischen Radikalismus am Ende des achtzehnten Jahrhunderts“. [1] Malthus führte einen antihumanistischen Gegenangriff gegen den aufkeimenden radikalen Humanismus.

Die aufstrebende kapitalistische Klasse wollte die radikalisierte Bourgeoisie abschütteln und das bedrohliche neue Proletariat kontrollieren. Ihr hat Malthus den Dienst erwiesen, Armut und Arbeitslosigkeit nicht als soziale, sondern als natürliche Probleme darzustellen, nämlich nicht als Mängel der gesellschaftlichen Entwicklung und des Fortschritts der Produktivkräfte, sondern schlicht als Produkt der Begrenztheit der Natur. Mit Rubin gesprochen sah Malthus die „wahre“ Ursache der Armut nicht in der Unangemessenheit des sozialen Systems, sondern im „natürlichen und unauflöslichen Widerspruch zwischen dem hemmungslosen Fortpflanzungstrieb des Menschen und den Grenzen der Vermehrung der für die Subsistenz erforderlichen Mittel“. Laut Rubin wollte Malthus „die Armut der arbeitenden Massen in der kapitalistischen Gesellschaft erklären und [sogar] rechtfertigen“. [2] Marx hatte eine besondere Abneigung gegen die Ideen von Malthus und nannte ihn den „professionellen Schmeichler des Landadels“, der „zugunsten des Kapitalismus die Unvermeidlichkeit der Armut nachweisen“ wollte. [3] Im Rahmen der malthusianischen Weltanschauung sind Armut und Not keine durch menschliches Handeln zu beseitigenden sozialen Probleme – sei es durch Reform oder durch Revolution –, sondern sie sind Bestandteil der natürlichen und unvermeidlichen Ordnung der Dinge, die man am besten sich selbst überlässt. Kein Wunder, dass die kapitalistische Klasse von ihm begeistert war.

Malthusianismus: Naturalisierung sozialer Probleme

Bemerkenswerterweise dringt Pearce nicht sehr weit in den weiteren Kontext der Arbeiten von Malthus vor, sondern hält sich auf mit Geschichten über seine Hasenscharte, seine eventuellen sexuellen Neigungen, seinen grausamen Zug, seinen Hass auf die Armen und seinen eindeutigen Irrtum – der Mensch hat durchaus Lösungen für das praktische Problem der Produktion und Verteilung von Lebensmitteln für die wachsende Weltbevölkerung gefunden. In der Konzentration von Pearce auf die misanthropische Weltanschauung und die Absonderlichkeiten von Malthus zeigt sich jedoch die eigentliche Motivation, die hinter Peoplequake steckt: Der Mensch Malthus – aber keineswegs seine Botschaft als solche – soll für tot erklärt werden. Malthus grundsätzliche Umdeutung von soziale in natürliche Probleme soll unangetastet bleiben, denn diese Deutung ist auch wesentlicher Bestandteil der Perspektive der zeitgenössischen Umweltschützer.

Nach seiner Kritik an Malthus wendet sich Pearce den verheerenden Auswirkungen der Ideen von Malthus auf spätere Generationen zu. Er untersucht die große Hungersnot in Irland von 1845–1852, der eine Million Menschen zum Opfer fielen, und die von Malthus’ Schülern als unvermeidliches Produkt der Überbevölkerung betrachtet wurde, als Produkt der vermeintlichen Tatsache, dass sich „die achtlosen, armseligen und faulen Iren vermehren wie die Karnickel“. Auch hier wurde ein soziales Problem – die durch die untergeordnete Position Irlands im Rahmen der kolonialherrschaftlichen Beziehung zu Großbritannien verursachte Armut und Repression – zu einer Naturerscheinung umgedeutet. Pearce untersucht, wie das malthusianische Denken die Eugenikbewegung vom Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts beeinflusste. Einige Anhänger dieser Bewegung waren gegen die Entwicklung von Impfstoffen und andere medizinische Durchbrüche, weil sie „die Natur daran hindern, die für Krankheiten anfälligen Menschen auszumerzen“.

Er verfolgt die malthusianischen Ideen bis zu William Vogt, dem Großvater des zeitgenössischen Umweltschutzes, dessen sowohl grünes wie auch malthusianisch geprägtes Buch Road to Survival 1948 erschien. Auch Vogt war instinktiv gegen medizinische Durchbrüche und agrarwirtschaftliche oder industrielle Fortschritte, weil sie zur weiteren Vermehrung des Menschen führen. So habe laut Vogt etwa in Indien „der Bau von Bewässerungsanlagen, die Verbesserung der Lebensmittellagerung und des Lebensmittelimports bei Hungersnöten [es den Indern lediglich ermöglicht,] sich weiterhin so verantwortungslos wie Kabeljau zu vermehren“. Pearce verfolgt diese Spur bis zum Optimum Population Trust (OPT) unserer Tage, einer altmodischen malthusianischen Institution mit dem Anliegen die menschliche Bevölkerung auf drei Milliarden zu reduzieren. Der OPT betrachtet den ganzen Planeten, aber insbesondere Afrika und Asien als Brutstätte für potentielles Chaos und Gemetzel. Nach Aussage eines der ehemaligen Vorsitzenden „muss das malthusianische Denken rehabilitiert werden, damit nicht dem gesamten Planeten das Schicksal von Ruanda zuteilwird.“ Demgegenüber betont Pearce, Afrika sei keineswegs überbevölkert: „Der Kontinent enthält 11 der 20 am wenigsten dicht besiedelten Staaten und nur einen der 20 am dichtesten besiedelten“.

Pearce will mit seinen Abrissarbeiten bezüglich Malthus und dessen Epigonen aber keineswegs erreichen, dass die Menschheitsprobleme nicht als natürliche, sondern als soziale verstanden und die rückständige Ideologie widerlegt wird, der zufolge wir auf einem endlichen Planeten leben, der bis in alle Ewigkeit „den hemmungslosen Fortpflanzungstrieb des Menschen“ ausbremsen wird. Pearce will die rückständigen Ideen vielmehr von ihrer unrühmlichen Verbundenheit mit den misanthropischen, rassistischen und zutiefst reaktionären Bewegungen der letzten 200 Jahre befreien, sowie von ihrem ebenso unerwünschten wie faktischen Ursprung im Denken eines verschrobenen, hasenschartigen und die Armen hassenden Pastors. Pearce will Malthus vernichten, aber zugleich das Wesen des malthusianischen Denkens bewahren.

Ökologischer Fußabdruck und metaphorischer Hektar: Malthusianismus ohne Malthus

Pearce glaubt offenbar, einen radikal neuen Beitrag zur Diskussion über den Menschen, den Planeten und die Ressourcen zu leisten, wenn er sagt, der entscheidende Faktor der Auswirkung des Menschen auf seine Umgebung sei der Verbrauch und nicht die Population. In dem Kapitel „Fußabdrücke auf einem endlichen Planeten“ gesteht Pearce nach 238-seitigen Angriffen auf den altmodischen Malthusianismus schließlich seine eigenen Ängste bezüglich der Überbevölkerung: „Die Vervierfachung der Weltbevölkerung im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts hat uns an den Rande des Abgrunds geführt … Für das Geschehen war unsere Zahl natürlich von wesentlicher Bedeutung, aber sie ist keineswegs der alles entscheidende Faktor.“

Das Entscheidende ist für ihn nicht einfach die Tatsache, dass Menschen geboren werden, sondern wie viel sie ab diesem Zeitpunkt verbrauchen. „Jetzt ist der steigende Verbrauch für unsere zunehmenden Auswirkungen auf den Planeten von erheblich größerer Bedeutung. Es ist fast allein für das Wachstum unseres Fußabdrucks in den letzten 30 Jahren verantwortlich, also in dem Zeitraum, von dem die diesbezüglichen Experten sagen, hier sind wir über die Tragfähigkeit des Planeten ‚hinausgeschossen’.“ Laut Pearce sind es folglich nicht die großen und armen Familien in Afrika, die „die Lebenserhaltungssysteme der Erde zugrunde richten“, sondern es sind die wohlhabenden Menschen im Westen: „Der US-Durchschnittsbürger hat bezüglich des Planeten einen ökologischen Fußabdruck von 9,5 Hektar – dieser Anteil der Erdoberfläche sei erforderlich, um ihn zu versorgen und die durch ihn verursachte Verschmutzung zu absorbieren. Für Australier und Kanadier seien etwa sieben Hektar erforderlich, bei Europäern und Japanern seien es vier bis fünf, bei Chinesen 2,1 und für Inder und die meisten Afrikaner brauche man einen Hektar oder weniger.“

Das Gerede von ökologischen Fußabdrücken und dem metaphorischen Hektar ist nebenbei bemerkt „Wissenschaft“ auf einem derart niedrigem Niveau, dass die Behauptungen der alten Eugeniker im Vergleich dazu fast wasserdicht scheinen; aber davon einmal abgesehen ist die Schwerpunktsetzung von Pearce auf die destruktiven Verbrauchsgewohnheiten des Menschen selbst zutiefst malthusianisch. Die Vorstellung eines Verbrauchsproblems – der durch den Menschen erschöpften endlichen Ressourcen – geht direkt auf Malthus selbst zurück. Sie war ein Kernelement der malthusianischen Ideologie. Das Wesentliche des traditionellen Malthusianismus lag nicht einfach in der Aussage, es gebe „zu viele Menschen“, denn dann hätte sich die Frage gestellt: zu viele Menschen wofür? Nein, der traditionelle Malthusianismus vertrat die Vorstellung, dass „zu viele Menschen“ die natürlicherweise begrenzten Ressourcen erschöpfen, was dann zu Hunger und Krankheit führt. Pearce hat diese Ideologie lediglich dahingehend aktualisiert, dass die eher Wohlhabenden im Vergleich zu den Armen als schädlicher dargestellt werden, und dass die Auswirkungen ihres schädlichen Verhaltens nicht „Hunger und Krankheit“ sondern „Zugrunderichtung der Lebenserhaltungssysteme der Erde“ sind.

Pearce aktualisiert und modernisiert ausdrücklich die Argumente von Paul Ehrlich, einem der einflussreichsten Neo-Malthusianer des zwanzigsten Jahrhunderts, der in seinem 1971 erschienenen Buch The Population Bomb (natürlich fälschlicherweise) schrieb, bedingt durch die Überbevölkerung würden „mehrere Hundertmillionen Leute verhungern“. [4] Ehrlich selbst hat den traditionellen Malthusianismus dahingehend aktualisiert, dass die destruktiven Auswirkungen des Menschen sich durch drei Faktoren bestimmen: die Zahl der Individuen, den Verbrauch jedes Individuums und die zur Befriedigung dieses Verbrauchs erforderlichen Ressourcen. Und jetzt aktualisiert Pearce Ehrlich gewissermaßen durch den „Malthusianismus der dritten Generation“. Laut Pearce ist „Ehrlichs zweiter Faktor der Auswirkungen des Menschen auf den Planeten [Verbrauch] in den Vordergrund getreten“. Tatsächlich verlangsamt sich das Bevölkerungswachstum, sagt Pearce, so dass man den OPT und andere Malthusianer ignorieren kann, um sich stattdessen auf das Hauptproblem zu konzentrieren: die Verbrauchsgewohnheiten der bestehenden Menschen anstatt der projektierten Zahl künftiger Menschen.

Grüner Malthusianismus Version 3.0

In den letzten 200 Jahren hat sich der Malthusianismus kontinuierlich selbst neu erfunden. Dazu war er gezwungen, weil so viele seiner Vorhersagen durch die menschliche Erfahrung widerlegt wurden, insbesondere die zentrale Behauptung aus Malthus’ Essay: Dass es für die Lebensmittelproduktion unmöglich sei, mit dem Bevölkerungswachstum schrittzuhalten. Generationen von Malthusianern haben sich damit herumgeschlagen und demgegenüber behauptet, eine „unvorhergesehene Entwicklung“ habe lediglich eine „vorübergehende Atempause“ von dem laut Malthus grundsätzlich bestehenden Dilemma mit sich gebracht, und während sich Malthus zwar in einigen Punkten geirrt haben mag, so habe er doch grundsätzlich Recht. Pearce geht einfach einen Schritt weiter, denn er sagt nicht nur, dass Malthus sich in einigen Punkten geirrt hat, sondern dass er ein persönlich suspektes Individuum mit sehr bedenklichen Ansichten gewesen sei. Aber auch wenn er es nicht laut sagt, so denkt doch auch Pearce, dass Malthus grundsätzlich Recht hat.

Denn alle Argumente vom Pearce fußen letztlich auf malthusianischen Grundsätzen. Dazu zählt die malthusianische Vorstellung, dass der Mensch die begrenzten natürlichen Ressourcen erschöpft. „Eine Inventur des natürlichen Reichtums ist ernüchternd“, sagt Pearce. Auch die malthusianische Vorstellung eines begrenzten und endlichen Planeten taucht wieder auf. Pearce bezeichnet die Erde als „endlichen Planeten“ und behauptet bizarrerweise, dass wir „in jedem Jahr 30% mehr Ressourcen verbrauchen als der Planet produziert“. Dabei wird jedoch der Umstand übersehen, dass an der Erde und ihren Ressourcen nichts grundsätzlich Endliches ist, denn was uns als Ressource gilt und was wir als solche nutzen, ändert sich im Laufe der Entwicklung der Gesellschaft. Da haben wir die malthusianische Vorstellung, dass die Begrenztheit der Natur bedeutet, dass der Mensch unvermeidlich in Armut leben muss. „Natürlich können arme Leute mit einem kleinen ökologischen Fußabdruck reich werden … und dann haben sie den gleichen Fußabdruck wie wir. Das führt dann unweigerlich zur Katastrophe“, sagt Pearce.

Außerdem taucht hier eine weitere zentrale malthusianische Vorstellung wieder auf, die ebenso für die gesamte zeitgenössische Umweltbewegung charakteristisch ist: die Vorstellung, dass soziale Probleme in Wirklichkeit natürlich Probleme sind, die nicht durch ein Versagen der Gesellschaft, sondern durch schwindende natürliche Reichtümer entstehen. Pearce wirbt vielleicht nicht wie Malthus für krasse neue Armengesetze, aber er und der Rest der grünen Bewegung naturalisieren soziale Erscheinungen wie Armut und Ungleichheit. Der Schwerpunkt der heutigen Politik liegt so nicht auf dem menschlichen Handeln zur möglichen Umbildung der Gesellschaft und der Befreiung der Menschheit vom Mangel, sondern auf der Befreiung der Natur (oder der „Biodiversität“, wie man heute lieber sagt) von menschlicher Ausbeutung, Verschmutzung und Zerstörung. Für mich ist das malthusianische Menschenbild als rücksichtslosem Verbraucher statt als Schöpfer, als Zerstörer statt als Produzent, auch in Pearce’ weichgespülter Variante, keineswegs besser verdaulich, als wenn es in Gestalt der Aussagen von Thomas Malthus daherkommt, der vor zuviel Sex warnt, der nur zu Hunger und Krankheit führt.

Pearce und einige andere einflussreiche Grüne wollen uns Glauben machen, es gebe in der Umweltbewegung eine grundsätzliche Debatte zwischen dem Malthusianismus alten Stils auf der einen und fortschrittlichen Grünen auf der anderen Seite. Das stimmt nicht. Tatsächlich gibt es einen engstirnigen Streit innerhalb des Malthusianismus darüber, wie antihumanistische Argumente heute am besten vorzutragen sind: Indem man die alte Ausdrucksweise verwendet und riskiert als „Rassist“ abgestempelt zu werden, oder indem man die neue Ausdrucksweise verwendet, die in unserer Zeit der politischen Korrektheit besser eingängig ist. Gerade jetzt, wo die Geburt des siebenmillardsten Erdenbürgers kurz vor der Tür steht sollten echte Humanisten beide Seiten entschieden ablehnen. Aber vor allem sollten sie sich von Leuten wie Pearce distanzieren – denn nichts ist tückischer als die Rehabilitierung malthusianischen Denkens unter dem Deckmantel des Krieges gegen Malthus.

 

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