26.11.2010

Karlsruhe gehorcht dem nachhaltigen Vorsorgeprinzip

Essay von Thomas Deichmann

Das Bundesverfassungsgericht folgt dem misslichen Trend, spekulative Angstszenarien wichtiger zu nehmen als reale Chancen, die Erfindergeist und Technologien bieten.

Am Mittwoch, den 24.11.2010 bestätigte das Bundesverfassungsgericht die Rechtmäßigkeit des deutschen Gentechnikgesetzes. Es folgt damit dem misslichen Trend, spekulative Angstszenarien wichtiger zu nehmen als reale Chancen, die Erfindergeist und Technologien bieten: ein Dämpfer, aber nicht nur für Sachsen-Anhalt.

Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, das Land Sachsen-Anhalt hätte das Bundesverfassungsgericht (BVG) nicht um Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Gentechnikgesetzes (GenTG) gebeten, sondern zunächst eine politische Initiative gestartet, um naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn und die sich hieraus erschließenden Anwendungschancen als zentrale geistige Ressourcen unseres Gemeinwesens unter den Schutz der Verfassung stellen zu lassen. Karlsruhe hat diese Ressource offenbar aus dem Auge verloren. Die Richter reihen sich damit ein in die lange Reihe jener, die das lähmende Vorsorgeprinzip zur neuen Richtschnur menschlichen Handelns auserkoren haben. Die Kultivierung von (zugelassenen und hinlänglich geprüften) gentechnisch veränderten (GV-)Pflanzen könne womöglich vielleicht eventuell doch schädliche Auswirkungen auf Mensch und Natur haben, so die verbreitete Sicht, der die Richter gefolgt sind. Dabei sind, nach dem Stand von (klassisch streng methodenorientierter) Wissenschaft und Forschung, derlei Szenarien (umgangssprachlich formuliert) an den Haaren herbeigezogen, was nicht zuletzt der umfangreiche wie erfolgreiche Anbau und Konsum transgener Pflanzen in den letzten Jahrzehnten außerhalb Europas zeigt.

„Bis heute gibt es keine Belege dafür, dass genveränderte Pflanzen gesundheitlichen Schaden auslösen“, kommentierte Sven Stockrahm in der „Zeit“. Ulli Kulke kritisierte die Verfassungsrichter in der „Welt“. Sie hätten sich von einer Stimmung im Lande anstecken lassen, die einen „endgültig geklärten Erkenntnisstand“ verlange, bevor „eine Technik angewendet, ja, genau genommen, bevor sie überhaupt richtig erforscht werden“ dürfe. „Eine Unmöglichkeit, schon theoretisch“, so seine Sicht der Dinge.

Wer Zweifel an der abschreckenden Wirksamkeit der „Genparagraphen“ im GenTG hegt, das in weiten Teilen von Wissenschaft und Pflanzenzucht als Gentechnikverhinderungsgesetz verschrien ist, braucht nur die Wirklichkeit zu betrachten. Die pflanzenbiotechnologische Forschung tendiert seit einigen Jahren in Richtung Ruhestand und beschäftigt sich, wenn überhaupt noch, dann mit hypothetischen Risikoszenarien, die, würde man sie auf konventionelle oder ökologische Landwirtschaftsysteme (oder Zahncremes) übertragen, ein sofortiges Verbot des globalen Ackerbaus (oder der Mundhygiene) zur Folge haben müssten. Nachwuchswissenschaftler kennen die moderne Biowissenschaft nur noch als Biosicherheitsforschung. Konventionelle Nutzungen und praktische Begleitforschungen sind indes in ganz Europa fast vollends zum Erliegen gekommen. In Deutschland liegt dies nicht zuletzt daran, dass man durch die gesetzlich fixierte Ungleichbehandlung als Landwirt, der auf vermeintlich freien Agrarmärkten zugelassene GV-Sorten kultivieren möchte, sehr schnell Kopf, Kragen und Hof verlieren kann – von den vielfältigen Verbalattacken als Folge der diskriminatorischen Züge des Gesetzespaketes mal ganz abgesehen. Das Gentechnikgesetz ist symptomatisch für eine Zäsur im Selbstverständnis unseres Kulturraumes, dem es neuerdings zuvorderst um die Bändigung statt um die Förderung von Neugier, Wissensdurst und Fortschrittsdrang geht. Das hat nun auch Karlsruhe besiegelt.

Auf die traditionelle Wertschätzung von Wissenschaft und Technikentwicklung kann man sich längst nicht mehr verlassen. Über viele Jahrzehnte gab es hierzu einen alle Parteien und Lager übergreifenden Konsens, dessen Wurzeln in die Zeit der Aufklärung reichen. Diese positive und selbstbewusste Grundhaltung gegenüber dem menschlichen Vermögen, trotz vereinzelten Rückschlägen immer wieder neue Herausforderungen zu meistern, hat uns unterm Strich Wohlstand, Freiheit und allerlei Annehmlichkeiten im Alltag beschert. Doch diese Haltung in den letzten Jahrzehnten erodiert – obwohl es, rein rational betrachtet, keinen Grund dafür gibt, denn das materielle Leben der Menschen auf der Erde verbessert sich fortlaufend.

Der aus dem Niedergang des emanzipatorischen Subjektbegriffs entstandene risikoobsessive Technokratismus nagt nun an allen Ecken und Enden. So ist es mittlerweile verwerflich, Energiefragen jenseits einer einfältigen Sparlampenmentalität zu diskutieren. Und selbst großartige zivilisatorische Errungenschaften wie die fortwährende Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht, ohne die sich in den letzten zehntausend Jahren keine menschliche Kultur im weitesten Sinne hätte entwickeln können, werden heute nur noch aus dem Loch der Risikogesellschaft heraus scheu beäugt. Dieser Zeitgeist gibt sich heute modern und schick und preist sich als Einstieg in goldene grüne Zeiten. Dabei predigt er Zurückhaltung, Verzicht, Abschottung und Grenzendenken und zerstört nachhaltig das humanistische Selbstbewusstsein, eine bessere Gesellschaft mit noch mehr Wohlstand und noch mehr Freiheit für noch mehr Menschen auf der Erde gestalten zu können. Nicht einmal einen banalen Bahnhof kann man im Deutschland des 21. Jahrhunderts mehr bauen.

Diese misslichen Trends sind in den letzten Jahren auch auf Sachsen-Anhalt niedergeprasselt. In der Region spielt die moderne Pflanzenzucht seit Generationen eine bedeutende Rolle für den globalen agrarischen Fortschritt und die allgemeine Wohlstandsentwicklung. So war es kein Wunder, dass die Landesregierung bald nach der Wende an den früheren Erfolgen anknüpfen wollte. Hightech und Forschung einschließlich der Gentechnik im Agrar- und Lebensmittelbereich wurden als Chance für eine effiziente Landwirtschaft und als vielversprechende New-Economy-Branche bewertet. Die Landesregierung beschloss im Sommer 2003 eine umfangreiche Biotechnologie-Strategie, bei der die Grüne Gentechnik neben dem Pharmasegment als zweiter Förderschwerpunkt festgelegt wurde. Ex-Wirtschaftsminister Horst Rehberger (FDP) kündigte an, Sachsen-Anhalt zu einem „führenden, weltweit anerkannten Biotechnologiestandort“ ausbauen zu wollen. Unterstützt wurde das Projekt „InnoPlanta“ in der Region Nordharz / Börde. Der Verein war im Mai 2000 gegründet worden und hatte schon im darauf folgenden Herbst beim InnoRegio-Wettbewerb des BMBF den ersten Platz belegt. Die existierenden Kompetenzen in der Region wurden vernetzt und ausgebaut – hierzu zählen das weltweit renommierte Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben (dem ein „Biopark“ angeschlossen wurde), die Universitäten und Hochschulen und eine Reihe lokaler Saatzuchtunternehmen. Zum Dreh- und Angelpunkt der Initiativen wurde die 2002 gegründete und von der Landesregierung mitgetragene BIOMitteldeutschland GmbH.

Sachsen-Anhalt avancierte zu einem Vorreiter für die Ausschöpfung der Potenziale, die die Grüne Gentechnik bereithält. Doch es wurde auch zu einem Bundesland, das erfahren musste, dass optimistische Aufgeschlossenheit gegenüber Wissenschaft und Technikentwicklung in Deutschland längst nicht mehr mehrheitsfähig ist. Es kam zu anhaltenden Verstimmungen mit der der rot-grünen Bundesregierung, die mit Bundesministerin Renate Künast (B‘90/Grüne) die deutsche Gentechnikverhinderungspolitik vorantrieb – woran später Horst Seehofer und Ilse Aigner (beide CSU) anknüpften. Gegen den Willen Berlins beschloss Sachsen-Anhalt im Jahre 2003, auf mehreren Hundert Hektar Ackerland einen Erprobungsanbau mit transgenem Mais zu starten. Man kümmerte sich sogar um universitäre Begleitforschung, nachdem die wissenschaftliche Unterstützung von Seiten der Biologischen Bundeanstalt (heute Julius-Kühn-Institut) kurzerhand von höherer Stelle untersagt worden war. Parallel zum Beginn des Erprobungsanbaus 2004 legte Künast ihren Entwurf zur Novelle des GenTG vor, um diese bis heute offiziell und ironischerweise als „Zukunftstechnologie“ bezeichnete Sparte nachhaltig auszubremsen. Sachsen-Anhalt legte Klage beim Bundesverfassungsgericht ein.

Die Störfeuer wurden ab 2004 auch von anderer Seite angefacht: Die rot-grüne Angstpolitik rief Protestgruppen auf den Plan, die seither durch Feldzerstörungen Millionenschäden angerichtet und Grundlagenforschung verhindert haben. In Bernburg in Sachsen-Anhalt wurden im März 2004 durch eine spektakuläre Greenpeace-Aktion Versuchsfelder für GV-Weizen mit einer Resistenz gegen Fusarien-Pilze weitgehend unbrauchbar gemacht. Im folgenden Mai wurde der Versuch von Unbekannten vollends zerstört: sie rissen die kultivierten Weizenpflanzen aus dem Boden des verbliebenen Versuchsfelds. Die Betreiberfirma Syngenta beschloss wenig später, die für die Zukunft der Welternährung nicht gerade unbedeutende transgene Weizenforschung in Deutschland vollends einzustellen. Auch hier ließ Sachsen-Anhalt nicht locker. Man bemühte sich vergeblich um eine Diskussion über den Gemeinnützigkeitsstatus grüner NGOs, die umfangreiche Steuerprivilegien genießen. „Wir können uns nicht von Greenpeace vorschreiben lassen, was wir strukturpolitisch zu tun und zu lassen haben“, erklärte Ex-Finanzminister Karl-Heinz Paqué (FDP). Und so ging es weiter und weiter. Der Urteilsspruch aus Karlsruhe ist ein neuer Dämpfer, aber nicht nur für Sachsen-Anhalt.

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