17.12.2019

Editorial

Im Umgang mit der Migration gibt es keine einfachen Antworten. Sicher ist, dass eine langfristige und humane Lösung nur gefunden werden kann, wenn sie die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung hat. Umso wichtiger ist es, eine offene Debatte über die Herausforderungen und Ziele der Migrationspolitik zu führen. Geht es darum, die Vielfalt zu fördern oder die Integration? Wenn Vielfalt als Ziel an sich verfolgt wird, was verbindet uns dann noch als Bürger? Statt die Grenzen möglichst offen zu halten, fordern manche, sie ganz abzuschaffen. Doch ist dies mit der Demokratie, in der die Bürger über die Politik zu bestimmen haben, vereinbar? In diesem Band kommen Autoren aus acht Ländern zu Wort. Sie sprechen Aspekte der Migration nach Europa an, die in unserer Debatte viel zu oft ignoriert werden.

Ist Immigration das Thema, an dem sich die Zukunft Europas und der EU entscheiden wird? Das ist die These, die der bulgarische Soziologe Ivan Krastev in seinem 2017 erschienenen Essay „Europadämmerung“ vertritt. Die Flüchtlingskrise habe das globale Ideal der Grenzenlosigkeit aus der Zeit nach dem Ende des Kalten Kriegs mit der Realität konfrontiert und die nationale Politik wieder auf die Tagesordnung gesetzt.

Doch wurde dieses Ideal jemals ernsthaft vertreten? Gewiss hat es in den letzten Jahren heftige ideologische Auseinandersetzungen gegeben, bei denen sich – grob gesprochen – zwei Pole gegenüberstanden. Auf der einen Seite diejenigen, die Diversität begrüßen und Grenzen für ein rückständiges Überbleibsel aus alten Zeiten halten. Auf der anderen diejenigen, die Kontrollen und Abschiebungen fordern. Die Unterschiede verschwinden aber, wenn es um die Frage nach echten Lösungen geht. Der Streit gibt, wie die Historikerin Andrea Komlosy in ihrem Buch über Grenzen schreibt, eher Stimmungen wieder und hat mit den realen Grenzen nichts zu tun.

Ein Zeitalter der offenen Grenzen gab es auch unmittelbar nach dem Ende des Kalten Kriegs nicht. Zwar fielen in den Dekaden nach 1989 zahlreiche Grenzen, aber gleichzeitig wurden die Zäune und Sperranlagen an anderer Stelle auf- und ausgebaut. „Die Grenzen waren nicht aufgehoben, sondern lediglich an die EU-Außengrenzen verlagert und – mit der Verlagerung nach außen – in ihrer Wirkung potenziert worden“ [1], so Komlosy. Ein Beispiel ist der im Jahr 1993 errichtete Grenzzaun in der spanischen Enklave Ceuta (an der Grenze zu Marokko), mit dem die Einwanderung aus Afrika in die EU gestoppt werden sollte. Die heutige Strategie der EU, die weit über das hinausgeht, was früher als Festung Europa bezeichnet wurde, beschreiben Vanessa und Mladen Pupavac in ihrem Beitrag zu Kroatien in diesem Band. In Europa entstehen – ungeachtet der Rhetorik der Offenheit – neue Grenzländer, die durch militarisierte Außenposten (z.B. in Libyen) ergänzt werden. Diese Strukturen, so Pupavac, seien problematischer als die von manchen so bekämpften nationalen Grenzen, weil sie im Verborgenen bestehen und keinerlei demokratischen Kontrollen unterliegen.

Im Umgang mit der Migration gibt es keine einfachen Antworten. Sicher ist aber, dass eine langfristige, humane Lösung nur gefunden werden kann, wenn sie die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung hat. Das Problem der Jahre 2014 und 2015 war nicht, dass die Grenzen für kurze Zeit geöffnet wurden, sondern, dass dies geschah, ohne die Bürger ausreichend zu konsultieren und eine demokratische Entscheidungsfindung zu ermöglichen.

Das gilt nicht nur für Deutschland, wo die Probleme erst begannen, als die Wähler merkten, wie unbefriedigend die Antworten der Regierung auf ihre berechtigten Fragen waren. Wie sollte es nach 2015 weitergehen? Was genau sollte mit dem „Wir schaffen das“ einhergehen? Was wird von den Neuzuzüglern erwartet? Wie kann die Integration aussehen? Usw. Die Mehrzahl der Bürger sah damals ein, dass sie und ihre Regierung zur Hilfe in einer konkreten humanitären Notsituation verpflichtet waren. Immer mehr wehrten sich jedoch dagegen, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wurde – und das ist eine gesunde Reaktion in einer Demokratie.

Im Zentrum der Flüchtlingskrise stand der Kontrollverlust, den die Bürger zur Kenntnis nahmen. Das trifft auch auf die Länder an Europas Peripherie zu, in denen sich die Probleme besonders zuspitzen. Wie angespannt und schwierig die Lage nach wie vor ist, geht aus den Beiträgen über Griechenland, Italien oder Kroatien in diesem Band hervor. Man mag die Reaktion des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán auf die Flüchtlingskrise von 2014 und 2015 bedauern, aber immerhin war sie eine Antwort auf die echten Sorgen der Bevölkerung, wie Péter Ungár ausführt. Angesichts der heutigen EU-Grenzpolitik wirkt die Kritik an Orbán geradezu heuchlerisch. Das größte Problem besteht jedoch darin, wie Frank Furedi schreibt, dass die EU mit ihrer Politik den Bürgern dieser Länder die Möglichkeit nimmt, ihren eigenen Zugang zur Migration zu finden. Stattdessen arbeitet sie mit Quoten, Zwangsandrohungen und Verordnungen. Wenn also die Flüchtlingskrise tatsächlich über die Zukunft der EU entscheiden sollte, dann, weil die Bürger ihr Recht auf demokratische Selbstbestimmung zurückfordern.

Ärgerlich ist es, wenn die Debatte über Migration mit einem überheblichen oder auch moralisch-anklagenden Ton geführt wird, der nicht selten mit der Errichtung von selbstbeschränkenden Tabus und Sprachregelungen einhergeht. Wer besondere Sensibilität signalisieren will, spricht von „Geflüchteten“ statt von Flüchtlingen usw. Das hat wenig mit Offenheit, dafür aber viel mit dem Wunsch zu tun, sich von seinen vermeintlich weniger sensiblen oder nachdenklichen Mitbürgern abzugrenzen. Eine ganz besondere Rolle spielen in diesem Zusammenhang zahlreiche Kulturschaffende, die sich mit dem Thema Migration und Flucht beschäftigen. Wie schmal der Grat zwischen einer Moralkampagne und dem Anspruch ist, das Bewusstsein für das Leiden der Flüchtlinge zu schärfen, zeigte sich bei der diesjährigen Biennale in Venedig. Ausgestellt wurde das Wrack eines Schiffes, auf dem zahlreiche Migranten gestorben waren, als es im Mittelmeer in Seenot geraten und untergegangen war. Mit der Frage, wie dieses Projekt zu bewerten ist, setzt sich Wendy Earle in ihrem Beitrag auseinander.

Die Migrationsfrage wird uns auch in den nächsten Jahren begleiten. Umso wichtiger ist es, eine offene Debatte über die Herausforderungen zu führen. Die Beiträge in diesem Buch über London und Amsterdam sollen zum Nachdenken anregen. Sie widersprechen dem Mantra, dass unsere Städte besser werden, je vielfältiger sie sind. Wer Vielfalt als Ziel an sich ansieht, umgeht die wichtige Frage, was unsere Gesellschaft verbindet. Abschottung gibt es nicht nur zwischen Staaten, sondern auch innerhalb eines Landes oder einer Stadt. Diese Form der Abschottung nennt man Segregation. Produktive Vielfalt entsteht nicht durch Immigration, sondern erst durch Integration.

Der vorliegende Band erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es gibt viele gute Gründe, für offene Grenzen einzutreten, die hier nicht genannt werden. Anders ist es mit dem Ruf nach Grenzfreiheit oder „no borders“. Wer die nationalen Grenzen abschaffen will, wendet sich gegen die Demokratie und schadet damit auch dem Ziel, die Migration freier und humaner zu machen. Wichtig war mir, unterschiedliche Perspektiven der Einwanderung nach Europa aufzuzeigen. Zur Sprache kommen Autoren aus verschiedenen Ländern. Ihre Beiträge behandeln Aspekte der Immigration, die hierzulande viel zu wenig thematisiert werden. Deshalb freue ich mich, dass es möglich war, dieses Buch herauszugeben.

Sabine Beppler-Spahl, Herausgeberin

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