19.11.2023

Der Antisemitismus und die Feigheit

Von Sabine Beppler-Spahl

Titelbild

Foto: Rafael Nir via Unsplash / CC0

Das feige Kuschen vor dem Antisemitismus ist eines der größten Probleme.

Spätestens seit den Angriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober ist der Antisemitismus bei uns nicht mehr zu ignorieren. Auf vielen, als Friedenkundgebungen deklarierten, Demonstrationen erklingen Slogans, die die Vernichtung Israels fordern. Dazu gehört der bekannte „from the river to the sea“ (gemeint ist das Gebiet Israels vom Jordan bis zum Mittelmeer). In Berlin wurde auch das auf Arabisch skandierte „Unser Leben, unser Blut werden wir für Dich, Al-Aqsa opfern“ registriert. In Teilen der Stadt wurden Häuser, in denen Juden leben, mit Davidsternen gekennzeichnet. Und es gab Brandanschläge auf Synagogen.

Die Heftigkeit, mit der dieser Antisemitismus zum Vorschein getreten ist, lässt sich nur durch das Zusammentreffen mehrerer giftiger Trends erklären. Einer davon ist gewiss der muslimische Antisemitismus, der jahrelang von offiziellen Stellen heruntergespielt oder ignoriert wurde. Die meisten Politiker und Kommentatoren sprachen gerne über den rechten Antisemitismus, den es, wie der Anschlag in Halle von vor einigen Jahren zeigte, natürlich auch gibt. Den muslimischen Antisemitismus aber verschwieg man aus Angst, dem Populismus das Wort zu reden oder sich dem Vorwurf der Islamophobie auszusetzen. So konnte z.B. die Bundeszentrale für politische Bildung 2020 ein Schwerpunktheft zum Thema Antisemitismus herausgeben, dass den muslimischen Antisemitismus kaum erwähnt, und wenn, dann relativierend. Das Heft enthält viele wertvolle und interessante Essays, aber es ist auch ein Ausdruck für die gefährliche Einseitigkeit, die die Debatte jahrelang kennzeichnete.

Von allein jedoch wäre der muslimische Antisemitismus, der sich auf den Straßen Neuköllns und anderen Gegenden entlädt, nie so stark geworden. Seine Kraft zog er aus der moralischen Unterstützung, die ihm der Antisemitismus der linksgerichteten, kulturellen Szene in Deutschland entgegenbrachte. Gemeinsam ist diesen beiden Ausdrucksformen des Antisemitismus ihr Hass auf Israel und ihr Blick auf die Palästinenser als die ultimativen Opfer. Die Hamas sind für sie keine barbarischen Terroristen, sondern Freiheitskämpfer. Dass es sich bei dieser kulturellen Szene keinesfalls um eine Randerscheinung handelt, zeigte die Documenta15 in Kassel von 2022. Deutschlands berühmteste Kunstausstellung endete bekanntlich in einem Skandal, nachdem immer mehr schlechte Kunst entdeckt wurde, die hässliche und dumme antisemitische Stereotypen bediente. Kassel verdeutlichte die Irrwege der Ideologie der Diversität und des westlichen Selbsthasses, denn die Documenta rühmte sich damit, dem „Globalen Süden“ eine Stimme geben zu wollen. Kassel zeigte auch den großen Einfluss der BDS-Bewegung (Boycott, Sanction, Divest), die zum Boykott jüdischer Künstler und Institutionen aufruft, in dieser Szene.

„Es ist die Feigheit derer, die es besser wissen sollten und die nicht selten über einigen Einfluss und Macht verfügen."

Für diese Kulturlinke sind der Konflikt im Mittleren Osten und die Solidarität mit den Palästinensern zu einem wichtigen Faktor der Selbstbestätigung geworden. Ihre Unterstützung für die Opfer – oder die, die sie als Opfer sieht – verleiht ihrem Kampf für Gerechtigkeit eine neue Legitimität und eine neue Dringlichkeit.

Doch zu alldem kommt noch etwas anderes: Eine weitere Tendenz, die den neuen Antisemitismus stützt und befördert: Die Feigheit. Es ist die Feigheit derer, die es besser wissen sollten und die nicht selten über einigen Einfluss und Macht verfügen. Es geht um diejenigen, die sich eigentlich an die Spitze des Kampfes gegen Antisemitismus stellen sollten, sich aber stattdessen lieber in vornehmer Zurückhaltung üben. Ihre Zurückhaltung wächst in etwa dem Maße, in dem der Antisemitismus anschwillt. Statt ihm mit Mut entgegenzutreten, versuchen sie ihn zu beschwichtigen.

Beispiele hierfür gibt es leider viele. Eines davon ist die Enthaltung der Bundesregierung bei der Abstimmung zur jordanischen UN-Resolution Anfang November. Die Motive der Bundesregierung waren mit Sicherheit ebenso innenpolitisch motiviert wie außenpolitisch. Mit ihrer Entscheidung, nicht gegen diese Resolution zu stimmen, verstärkte sie Israels Isolation. Es blieb den USA und einigen Ländern wie Ungarn und der Tschechischen Republik vorbehalten, ihre Solidarität mit dem bedrohten Land in diesem entscheidenden Moment zum Ausdruck zu bringen. Die Begründung, man habe damit den Weg zu Verhandlungen aufrechterhalten und Israel langfristig geholfen, klingt ziemlich fadenscheinig.

„Ein Beispiel ist das ZDF-Interview mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime."

Aber auch die Presse liefert genügend Beispiele für Feigheit. Eines davon ist das ZDF-Interview mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, vom 1. November. Der Vorsitzende sollte im Interview Stellung zu der Halbherzigkeit beziehen, mit der der Verband den Hamas-Angriff vom 7. Oktober verurteilt hatte. Doch der Funktionär schaffte es schnell, die Journalistin mit dem Hinweis, Muslime wären einer pauschalisierenden Kritik ausgesetzt, in die Defensive zu bringen. Mehr als ein vages Statement gegen den Antisemitismus, den Mazyek zudem vorwiegend als von rechts motiviert sah, war ihm nicht zu entlocken. Seine Behauptung, Israel begehe Kriegsverbrechen, ließ die offensichtlich überforderte Interviewerin unkommentiert im Raum stehen.

Die Beispiele für Feigheit könnten viele Seiten füllen. Zu nennen wären das Entfernen von Plakaten der von der Hamas entführten Geiseln durch die Polizei in Berlin. (Zwischenzeitlich hat sich eine Sprecherin der Polizei dafür entschuldigt und mitgeteilt, es habe sich um eine Fehleinschätzung gehandelt). Oder auch die Absage einer Pro-Israel-Protestaktion, weil man keinen ausreichenden Schutz versprechen konnte. Der Protest, den der Aktivist Marcel Luthe in Berlin-Neukölln organisieren wollte, sah u.a. vor, mit Autos durch die Straßen zu fahren und Informationen über Israel zu verbreiten sowie Ballons zu verteilen, auf denen „Free Gaza from Hamas“ zu lesen war. Dass der Protest in vorauseilender Vorsicht verboten werden musste, war kein gutes Zeichen für die Meinungsfreiheit. Und zudem ein Eingeständnis der Hilflosigkeit an diejenigen, deren Aggression man fürchtete.

Wie gefährlich die Feigheit ist, die vor dem Antisemitismus kuscht, haben zahlreiche Historiker–- und auch die Publizistin Hannah Ahrendt in ihrem großen Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ – immer wieder dargelegt. Es war nicht allein die Macht der Antisemiten in der Weimarer Zeit, die die Katastrophe herbeiführte, sondern die Angst der liberalen, bürgerlichen Kräfte, ihr entschlossen entgegenzutreten. Zwar ist unsere Zeit anders als die der 1920er Jahre, aber die Feigheit ist auch heute wieder eines der größten Probleme.

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