24.01.2017

Nein zu staatlich moderierten Meinungen

Kommentar von Sabine Beppler-Spahl

Titelbild

Foto: Simon Rosengren via Pexels / CC0

Der Vorschlag eines Juraprofessors, die Demokratie durch Beschränkung der Meinungsfreiheit zu schützen, ist orwellscher Neusprech.

Am 16. Januar brachte die FAZ im Feuilleton einen Beitrag mit dem Titel: „So bekämpft man die Lügen im Netz“. „Demokratie braucht Debatten ohne Hass und Verzerrung“, beginnt der Text, der von dem Rechtsprofessor Rolf Schwartmann verfasst wurde. Desinformation, Ehrverletzungen, Falschmeldungen, die über die sozialen Medien verbreitet würden, zersetzten die Demokratie von innen, weil sie Wahlentscheidungen beeinflussen könnten, wie nun auch der Bundeswahlleiter gewarnt habe. Um die kommenden Wahlen zu schützen, müssten sich daher Staat und Wirtschaft ihrer Verantwortung stellen und einen „institutionellen Rahmen für die Meinungsfreiheit schaffen“. Der gegenwärtige funktioniere nicht mehr, denn es gebe keine „Institution der Selbstkontrolle, die das Recht auf freie Meinungsäußerung und dessen Missbrauch in der Waage hält“.

Hier ist ein wahrer Meister des Neusprechs, wie ihn George Orwell nicht besser hätte erfinden können, am Werk. Die Meinungsfreiheit, so lernen wir, muss geschützt werden, indem sie eingeschränkt wird. Hass und Verzerrungen haben in der „demokratischen“ Gesellschaft keinen Platz. Wo Hass und Verzerrungen beginnen, erklärt uns der Autor nicht, doch dürfen wir davon ausgehen, dass sein Rahmen eng gesteckt ist. Würden Salman Rushdies „Satanische Verse“ die Selbst- oder Fremdkontrolle überstehen? Vor Donald Trump, dem „Hassprediger“ (Frank-Walter Steinmeier), jedenfalls wären wir geschützt. Seine Tweets, in denen er auf die EU oder die Nato schimpft, kämen nicht ungefiltert oder ohne Warnhinweis bei uns an. Los wären wir auch die hässlichen Bilder und Nachrichten von wütenden Protesten und Demonstrationen, zum Beispiel gegen Neonazis oder die AfD. Ja, sogar der Stinkefinger von Sigmar Gabriel, „schlicht eine emotionale Reaktion“, wie er später eingestand, wäre uns erspart geblieben.

„Wie die Meinungsfreiheit will er auch gleich die Demokratie durch die Einschränkung ihrer selbst retten“

So war es nicht gemeint? Dem Autor geht es um die reine Wahrheit und die sozialen Netzwerke. „Herkunft, Authentizität und Wahrheitsgehalt beleidigender oder unsachgemäßer Äußerungen sind im Netz kaum überprüfbar“, schreibt er. Daraus dürfen wir schließen, dass sie überall sonst leicht zu überprüfen sind. Wenn also zum Beispiel viele Zeitschriften melden, dass Melania Trump von Modedesignern boykottiert wird, dann lässt sich der Wahrheitsgehalt dieser Aussage sofort daran erkennen, dass die neue First Lady entweder nackt oder in alten Klamotten zur Amtseinführung ihres Mannes erschien.

Ein anderes Beispiel waren die Meldungen über den Brexit. Die britischen Wähler, so erfuhren wir unmittelbar nach der Abstimmung, hätten die EU eigentlich gar nicht verlassen wollen. Sie hätten einfach nicht gewusst, worüber sie abstimmten. Der untrügliche Beweis: Plötzlich googelten die Briten, was der Brexit bedeute. Ja, angeblich bereuten sie ihre Entscheidung schon wenige Stunden später: Auf Brexit folgte Bregret. Wie einleuchtend, klar und überprüfbar für den deutschen Zeitungsleser! Dass Umfragen in Großbritannien zum gegenteiligen Schluss kamen, brauchte gar nicht mehr an die große Glocke gehängt zu werden.

Überhaupt: die Wahrheit und der Brexit. „Ein anonymer Schwarm beansprucht die Deutungshoheit über Richtig oder Falsch, ohne sich mit dem Inhalt der Entscheidungen, siehe Brexit, zu befassen und Verantwortung für die Folgen zu übernehmen“, schreibt der Rechtsprofessor in der FAZ. Mit dem „anonymem Schwarm“ sind wohl die 17,4 Millionen Bürger gemeint, die für den Austritt gestimmt haben. Interessant die Wortwahl, aus der die pure Angst vor dem unkontrollierbaren Wähler spricht. Hier kommen wir endlich zum Kern des Problems: „Das bewährte Korsett unserer Demokratie, die Repräsentation und die sie sichernden Institutionen, werden durch den Machtanspruch eines ungezügelten Volkswillens geschwächt“, schreibt er. Wie die Meinungsfreiheit will er auch gleich die Demokratie durch die Einschränkung ihrer selbst retten. Wie gesagt, ein wahrer Meister des Neusprechs!

„Statt eines anonymen Schwarms erhielte ein kleiner Kreis auserwählter Oligarchen die Deutungshoheit über Richtig und Falsch“

Da dem Volk nicht zu trauen ist, weil es sich von Hetzern und Lügnern aufwiegeln lässt, schlägt er ein einschüchterndes mehrstufiges Netz der Wahrheitskontrolle vor, dessen Anfang und Ende beim Staat liegen. Es besteht aus harten Strafen, rund um die Uhr erreichbaren Faktenprüfern mit journalistischer und juristischer Kompetenz, Ethikkommissionen und Selbstkontrolleinrichtungen, die durch staatliche Stellen beaufsichtigt werden. Das System des Jugendmedienschutzes wird erwähnt, das sich in Deutschland bewährt habe. Ganz richtig, denn formell sind wir zwar erwachsen, aber deswegen eben noch lange nicht weniger schutzbedürftig als die Jugend! Und unzurechnungsfähig ja ohnehin.

Schöne Vorschläge, die uns hier unterbreitet werden. Statt eines anonymen Schwarms erhielte ein kleiner Kreis auserwählter Oligarchen die Deutungshoheit über Richtig und Falsch in der Politik. Der Streit darüber, wie die Politik der letzten Jahre zu bewerten ist, fände nur noch unter der „Moderation staatlicher Stellen“ statt. Die Wahrheit läge in den Händen derer, die den Durchblick haben und sich nicht von falschen Fakten, Interessen oder Vorurteilen verführen lassen. Wichtig ist dem Autor allerdings noch der Hinweis, dass es sich bei keiner der genannten Maßnahmen um Zensur handele. „Zensur meint die Schere im Kopf und ist staatliche Unterdrückung nichtgeäußerter Ansichten“. Da stellt sich die Frage, ob es so etwas wie Zensur überhaupt gibt, da man nichtgeäußerte Ansichten ja wohl kaum verbieten kann? An einem Punkt müssen wir dem Autor uneingeschränkt Recht geben: Die Demokratie und ihre Errungenschaften sind in Gefahr. Wenn es nach ihm ginge.

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