01.03.2002

Mögen Embryonen sterben

Analyse von Thilo Spahl

Kommentar zur Entscheidung des Deutschen Bundestages zum Import embryonaler Stammzellen.

Als einen „schwarzen Tag in der Geschichte des deutschen Volkes“ bezeichnete der Eichstätter Bischof Walter Mixa den Tag der Entscheidung über den Import embryonaler Stammzellen im Deutschen Bundestag. Und er hat Recht. Die Art und Weise, wie sich ein Großteil der Parlamentarier zu Forschungsfeindlichkeit und einem zutiefst anti-humanistischen Weltbild bekannt hat und die Abgeordneten sich in ihrem selbstgefälligen, ganz und gar bodenlosen Moralismus nicht entblödeten, die Positionen reaktionärer Lebensschützer zu übernehmen, war erschreckend, wenn auch nicht überraschend. Nicht minder entsetzlich war das Lob, das der Bundestag für diese abgründige Ethik-Show in den Medien erheischte. „Dieses Land kann stolz auf sein Parlament sein“, las man im Leitartikel der Frankfurter Allgemeine Zeitung. „Nirgendwo in Deutschland wird mit größerer Verantwortlichkeit über die Grundfragen des Lebens gesprochen, als es am Mittwoch stundenlang im Bundestag geschah.“(31.1.02)

Der Kompromissvorschlag, der am Ende verabschiedet wurde, ist die restriktivste Lösung, die europa- und verfassungsrechtlich möglich war. Bei einem absoluten Verbot des Imports von humanen embryonalen Stammzellen (ES-Zellen), für das 265 Abgeordnete stimmten, wäre die Angelegenheit voraussichtlich vor das Bundesverfassungsgericht getragen und dort erfolgreich angefochten worden. Der Import von humanen ES-Zellen ist nun in Deutschland zwar grundsätzlich verboten. Eine Ausnahmeregelung erlaubt den Import von ES-Zellen, die im Ausland vor einem Stichtag erzeugt worden sind. Obwohl dies nach bestehender Rechtslage auch vor de 30. Januar bereits zulässig war, soll eigens ein neues Gesetz verabschiedet werden, was den Importgegnern wieder neue Gelegenheit gibt, die Forschung weiter zu behindern und Projekte zu verzögern.

“Was bedeutet „Töten“, wenn man von Embryonen spricht, von denen zu diesem Zeitpunkt mühelos einige Hundert in einen Wassertropfen passen?”

Der Embryo und seine Retter

Was wird eigentlich importiert? Obwohl die Zeitungen voll sind mit Beiträgen rund um den lange hinausgezögerten Stammzellentscheid, wissen die meisten Leute bis heute nicht, was da eigentlich genau und zu welchem Zweck eingeführt werden sollte. Humane embryonale Stammzellen sind Zellen, die in Kultur immer weiter vermehrt werden und ursprünglich einem menschlichen Embryo entnommen wurden. Die Grundlagenforschung interessiert sich für diese Zellen, weil für die Entwicklung des Körpers und der einzelnen Organe der Prozess der Zellteilung und -differenzierung von zentraler Bedeutung und noch kaum erforscht ist. Die medizinische Forschung interessiert sich für die Stammzellen, weil aus ihnen prinzipiell alle Zellarten des Körpers hervorgehen können und im Labor zu züchtende Zellen möglicherweise in der Zukunft zur Therapie einer Vielzahl schwerer Krankheiten genutzt werden könnten. Zum Zeitpunkt, als die US Institutes of Health im Herbst letzten Jahres die besagten Zellkulturen (auch „Zelllinien“ genannt) zählten und ein Register erstellten, waren es weltweit – auf Schweden, USA, Australien, Israel und Indien verteilt – 72 an der Zahl. Diese 72 werden nun wahrscheinlich auch als Importquelle für Deutschland zugelassen. Um sie zu erzeugen, mussten 64 Embryonen getötet werden, was mit dem Gewissen der Mehrheit der deutschen Parlamentarier angeblich nicht vereinbar ist. Was aber bedeutet „Töten“, wenn man von Embryonen spricht, die zu diesem Zeitpunkt noch so klein sind, dass man mühelos einige Hundert in einem Wassertropfen unterbringen könnte? Es bedeutet nichts! Eine tiefgefrorene befruchtete Eizelle wird aufgetaut, sie durchläuft ein paar Zellteilungen, dann werden ihr einzelne Zellen entnommen und in eine Nährlösung gegeben. Wäre die Eizelle nicht zur Erzeugung einer Stammzellinie genutzt worden, wäre sie entweder noch ein paar Jahre in der Gefriertruhe geblieben und dann weggeworfen worden oder gleich im Ausguss gelandet, so wie jedes Jahr viele Tausende andere, für deren Lebensrecht sich bemerkenswerterweise kein deutscher Parlamentarier einsetzt.
Der Embryo wird offenbar erst dann schutzwürdig, wenn die Forschung ihn nutzen möchte. Es geht also nicht darum, Embryonen vor dem Tod zu schützen, sondern vor der Nutzung. Was für einen Sinn aber kann das haben?
Nun, nicht selten war zu hören, Import und Nutzung von ES-Zellen verstoße, wenn nicht gegen den Text, so doch gegen den „Geist des Embryonenschutzgesetzes“. Ähnlich ist es wohl auch beim Embryo selbst. Die auf Nutzung zielende Tötung richtet sich nicht gegen den „Embryo“ genannten Zellhaufen, dem das Leben nichts bedeutet, sondern gegen den Geist des Embryos, der dem Politiker den Gestus ermöglicht, mit schützender Hand den Zugriff auf die „Embryo“ genannte Inkarnationen der Wehrlosigkeit und Unschuld zu verhindern. Der Politiker liebt es, die schützende Hand zu heben und das Volk wissen zu lassen, dass ihm der Schutz der Schwachen und Hilflosen oberstes Gebot sei. Der Embryo aber – klein wie er ist, nur aus ein paar undifferenzierten Zellen bestehend – hat keine Stimme und kann sie nicht erheben gegen seine Beschützer und kann nicht rufen: „Lasst mich nicht in der Gefriertruhe dahindümpeln, gebt meine Zellen frei für die Forschung, auf dass Erkenntnis zum Nutzen der Menschheit daraus gezogen werde.“

 

Die Stammzelle Der menschliche Körper besteht aus einer Vielzahl spezialisierter Zellen, die sich erheblich voneinander unterscheiden und ganz unterschiedliche Funktionen wahrnehmen. Doch ganz am Anfang unseres Lebens bestehen wir nur aus einer einzigen Stammzelle, nämlich der befruchteten Eizelle. Diese Stammzelle ist sozusagen das Gegenteil von spezialisiert. Sie ist universell, in der Biologie nennt man sie totipotent. Sie vermehrt sich, indem sie sich teilt, und gleichzeitig differenzieren sich die neu entstehenden Zellen, und all die Organe des Menschen werden angelegt. Da sich aus Stammzellen also (zumindest theoretisch) alle Gewebe und Organe des Menschen erzeugen lassen, misst man ihnen heute höchsten medizinischen Wert bei. Denn viele schwere Krankheiten – vor allem im Alter – resultieren aus dem Verlust von Zellen. Könnte man diese ersetzen, wäre schwere Krankheiten zu heilen. Nervenzellen könnten neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson sowie Lähmungen kurieren. Zellen der Bauchspeicheldrüse würden es Diabetikern wieder ermöglichen, selbst Insulin zu produzieren. Herzzellen würden für die Regeneration des Organs nach einem Infarkt sorgen. Mit Hautzellen, Knochenzellen, Blutzellen, Leberzellen, Nierenzellen ließen sich etliche Verletzungen und Krankheiten heilen. Der entscheidende Durchbruch für die Stammzelltechnologie gelang 1981, als englische und amerikanische Embryologen bei embryonalen Stammzellen den Prozess der Vermehrung von der Differenzierung trennten. Indem Sie den Zellen vorgaukelten, sie befänden sich weiterhin in einem sehr frühen Embryo, brachten sie sie dazu, sich immer weiter zu vermehren, ohne sich jedoch zu differenzieren. So konnten im Labor große Mengen undifferenzierter embryonaler Stammzellen erzeugt werden. Die Forschung am Menschen begann erst vor kurzem: Im Jahre 1998 gelang es John Gearhart erstmals, menschliche embryonale Stammzellen zu isolieren und im Labor zu kultivieren. Nun konzentriert man sich darauf herauszufinden, mit welchen Substanzen die embryonalen Stammzellen dazu gebracht werden können, sich zu den jeweils gewünschten spezialisierten Zellen zu differenzieren. Außerdem gilt es herauszufinden, ob die so gewonnenen Zellen tatsächlich in allen wichtigen Eigenschaften mit den normal im menschlichen Körper vorkommenden übereinstimmen, oder ob sie sich anders verhalten, zum Beispiel schneller altern oder womöglich dazu neigen, zu Krebszellen zu entarten. Auch die Frage der Abstoßung ist noch offen. Für pluripotente embryonale Stammzellen gibt es derzeit folgende Quellen:

  • Frühe Embryonen, die bei der Reagenzglasbefruchtung (IVF) entstehen oder speziell zu Forschungszwecken in vitro erzeugt werden;
  • geklonte Embryonen, die durch das Einpflanzen des Zellkerns einer erwachsenen Zelle in eine Eizelle erzeugt werden (therapeutisches Klonen);
  • Keimbahnzellen von abgetriebenen Föten (EG-Zellen);
  • durch Jungfernzeugung (Parthenogenese) aus unbefruchteten Eizellen erzeugte Embryonen.

Außerdem soll es jüngst gelungen sein, aus dem Knochenmark Erwachsener Stammzellen zu isolieren, die über das gleiche Potenzial wie embryonale Stammzellen verfügen – so genannte MAPCs (multipotent adult progenitor cells)

 

Erst Embryo, dann Fötus, dann Kind und Kegel?

Wenn der Embryo in dieser Inszenierung das Opfer gibt, dann ist der Embryonenforscher der Täter. Von diesem Berufsstand ist ja mittlerweile bekannt, dass sein geheimes Ziel die Züchtung von Armeen von Hitlerklonen ist, wozu zuerst natürlich Armeen von Embryonen verbraten werden müssen. Doch das Stück wird nicht nur im Bauerntheater gespielt. Wo vom Zuschauer erwartet werden kann, dass er weiß, dass die Stammzellen mit einem Menschen nicht mehr gemein haben als einen kompletten Gensatz und dieser nicht Wohnstatt der Menschenwürde sein kann, da diese sonst ja auch in jeder Hautzelle hausen würde, dort muss der Ausblick auf größere Verbrechen geboten werden, um ihn erschaudern zu lassen.
Das weiß auch Georg Paul Hefty und lässt daher den Leser wissen, dass es vom Keimbläschen zum Erwachsenen nur dreier kleiner Schritte bedürfe: „Wer ist überzeugt, daß dereinst bei der Anwendung der neuen Verfahren auf Föten, Neugeborene, Kinder oder Erwachsene weniger ‚verbrauchend‘ experimentiert würde als jetzt mit Embryonen nach den ersten Zellteilungen? Einmal zum dominanten Maßstab erhoben, ließe sich die Heilungserwartung Dritter stets als Rechtfertigung anführen.“ (FAZ, 29.1.02)

So wird aus der verbrauchenden Embryonenforschung schnell verbrauchende Menschenforschung, und Oliver Brüstle mutiert zu Josef Mengele. In Wirklichkeit aber bleiben Zellen Zellen und Menschen Menschen.

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