16.08.2013
Massaker in Ägypten: Die Armee drückt ab, aber die Munition kam aus dem Westen
Von Brendan O’Neill
Brendan O’Neill, Chefredakteur des Novo-Partnermagazins Spiked, analysiert die politischen Hintergründe der Militärmassaker in Ägypten. Die moralische Autorität für ihre grausamen Taten bezogen die Putschisten auch von westlichen Liberalen und Menschenrechtsaktivisten.
Es hat einen weltweiten Aufschrei über das Verhalten der ägyptischen Sicherheitskräfte am Mittwoch gegeben. Mindestens 525 Anhänger des abgesetzten Präsidenten der Muslimbruderschaft, Mohammed Mursi, sind massakriert worden. Die Tötungen waren „exzessiv“, verkündet Amnesty International. Wohl im Wettstreit um die Untertreibung des Jahres, nennen die Tageszeitungen das Vorgehen „brutal“, während westliche Politiker „zu viele Tote“ beklagen.
Diese nachträglichen Bekundungen künstlichen Beileids sind nicht nur unzureichend, sie kommen auch zu spät (Hunderte Ägypter wurden bereits von dem Militärregime, das Mursi aus dem Amt gejagt hat, abgeschlachtet); sie zeugen auch von außerordentlicher Engstirnigkeit. Schaut man nur auf die Taten der Sicherheitskräfte, entgeht einem der politische Kontext. Um ihn zu verstehen, muss man die Frage stellen, woher das Militärregime die moralische Autorität nahm, um des Erhalts ihrer demokratisch nicht legitimierten Macht willens so gewalttätig gegen seine Kritiker vorzugehen. Die Antwort: Sie kam aus dem Westen, sogenannte „Liberale“ und „Menschenrechtsaktivisten“ inbegriffen. Die moralische Rechtfertigung für das Massaker wurde von denselben Politikern und Aktivisten geliefert, die jetzt den Tod Hunderter Ägypter mit Krokodilstränen beweinen.
„Nur die Taten der Sicherheitskräfte am Mittwoch zu kritisieren, heißt bestenfalls die halbe Geschichte von dem zu erzählen, was sich in Ägypten in den letzten zwei Monaten abgespielt hat.“
General Abdal Fattah al-Sisi hat Mursi am dritten Juli entmachtet. Dass der Führer der ägyptischen Streitkräfte nun glaubt, er könne seinen siegreichen Putsch mit allen erdenklichen Mitteln gegen seine Rivalen absichern, ist kein Wunder. Viele hochrangige, westliche Repräsentanten haben dem undemokratischen Regime ihren Segen verliehen, selbst nachdem bereits Protestler getötet worden waren, die Mursi, der 2012 immerhin mit 52% der Stimmen gewählt worden war, wieder in sein Amt einsetzen wollen.
Baroness Catherine Ashton, Hohe Vertreterin der EU für Außen-und Sicherheitspolitik, die genau wie al-Sisi niemals in einer demokratischen Wahl gewählt wurde, stattete Ägypten Ende Juli einen Besuch ab. Sie traf sich mit al-Sisi und seinem eigens ausgesuchten, ebenfalls ungewählten Präsidenten, Adli Mansur. An diese Junta, die sich als eine Übergangsregierung verkauft, appellierte sie, nun – auch mit der Rückendeckung des deutschen Außenministers Guido Westerwelle, übrigens – den „Weg zu einem stabilen, wohlhabenden und demokratischen Ägypten“ einzuschlagen. Das war, nachdem bereits Hunderte Protestierende massakriert und diverse Politiker und Aktivisten ins Gefängnis gesteckt worden waren. Das war auch nachdem die Geheimpolizei aus der Ära Mubaraks reinstalliert wurde, um einen sogenannten „Anti-Terror-Krieg“ gegen die Muslimbrüder führen zu können. Al-Sisi nach solch drastisch-autoritären Maßnahmen zu besuchen und mit ihm ein Gespräch über Demokratie zu führen, verlieh dem Militärputsch politische Autorität.
Indes weigern sich die USA, das Hinwegfegen Mursis durch das Militär, tatsächlich auch einen Putsch zu nennen. Der US-amerikanische Außenminister John Kerry ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen und gratulierte al-Sisi dazu, die „Demokratie wiederherzustellen“. Kerry äußerte, dass die Machtergreifung des Militärs einen Versuch darstellte, „ein Abgleiten in Chaos und Gewalt“ unter Mursi zu verhindern. Die Berufung von Zivilpersonen in hohe, politische Ämter sei ein klares Zeichen für den Willen, die „Demokratie wiederherzustellen“. Das hat er am zweiten August gesagt, nachdem bereits Hunderte Anhänger Mursis getötet worden sind. Es ist offensichtlich, woher al-Sisis Streitkräfte den Glauben nehmen, dass das Töten von Demonstranten, die die Wiedereinsetzung eines demokratisch legitimierten Präsidenten fordern, ein demokratischer Akt sei, eine notwendige und gute Sache.
„Was wir hier erleben ist nicht einfach nur das harte Durchgreifen bewaffneter Männer, sondern die vom Westen gebilligte Durchsetzung brachialer Stabilität und das Ende des arabischen Frühlings.“
Derweil hat sich auch der ehemalige britische Premierminister Tony Blair, heute Friedensabgesandter der UN, exemplarisch für viele Vertreter der politischen Elite der westlichen Welt als ein großer Fürsprecher des al-Sisi-Regimes herausgestellt. Die Armee wird bei dem Versuch, „das Land wieder auf einen demokratischen Pfad einzulenken“, wie er sagt, „einige harte, auch unpopuläre Entscheidungen“ treffen müssen. Noch überwältigender war Blairs Aussage, dass eine effiziente Regierung wichtiger sei als eine gewählte. Die „sehr unpopulären“ Massaker im Namen des effizienten Funktionierens des ägyptischen Staats werden vom Militärregime um al-Sisi durch genau solche moralische Narrative gerechtfertigt. Genauso wie das al-Sisi-Regime von der moralischen Rückendeckung durch führende Politiker des Westens profitiert, so profitiert es ebenfalls vom Totalausfall der westlichen Menschenrechtslobby. Das sonst so gut funktionierende Netzwerk aus Kommentatoren und Aktivisten, die normalerweise einen Riesenwirbel machen, wenn ein Militärregime irgendwo auf der Welt Repressionen gegen die jeweilige Opposition verübt, hat sich im Zusammenhang mit der neuen ägyptischen Diktatur vor allem durch sein Schweigen ausgezeichnet.
Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International haben eine Schlüsselrolle eingenommen, als es darum ging, den internationalen Fokus von Ägypten abzulenken. Zum Beispiel indem sie Fälle, wie die Inhaftierung von Pussy Riot, in den Vordergrund ihrer Kampagnenarbeit gestellt haben. Erstaunlicherweise hat Amnesty gerade eine Kampagne gestartet – „Back on Taksim“ – welche es Westlern erlaubt, online auf dem Taksim Platz „einzuchecken“. Dadurch soll ein Bewusstsein für das harte Durchgreifen der Polizei gegen die Demonstranten und die gewalttätige Auflösung der Protestcamps gefördert werden. Und das Massaker bei den Protest-Camps in Kairo? Verdient das nicht auch eine App? Anscheinend nicht. Amnesty ist nur interessiert an säkularen, linksorientierten Demonstranten, nicht an bärtigen, Koran-lesenden Kerlen, die die Wiedereinsetzung eines religiös orientierten Präsidenten fordern.
Amnesty ist aber noch weiter gegangen, als nur die Aufmerksamkeit der Menschenrechtsbrigaden vom blutgetränkten Kairo abzuwenden – unbeabsichtigt steuerten auch sie ihren Teil zur Rechtfertigung der Massaker bei, die durch die ägyptischen Sicherheitskräfte verübt wurden. Ein bedeutender Beitrag Amnestys zur Diskussion um Ägypten in den vergangenen zwei Monaten ist ein Bericht, der den Mursi-Anhänger vorwirft, ihre Kontrahenten – also die Unterstützer von al-Sisis Militärregime – in die Protest-Camps entführt und dort gefoltert zu haben. Das Regime hat es sich nicht nehmen lassen, diese Behauptungen als Rechtfertigung für die gewalttätige Zerstörung des Mursi-Lagers zu zitieren. Der Außenminister des Regimes, Nahil Fahmy, erwähnte den Bericht, als er erklärte, weshalb seine Streitkräfte einen „Anti-Terror-Krieg“ gegen die Unterstützer Mursis gestartet hätten. Amnesty hat nicht nur die Ernsthaftigkeit des Massakers herunter gespielt, sondern auch noch eine moralische Entschuldigung für ihre Vollstreckungen geliefert.
Auch die ägyptische Linke gab dem Massaker an den Mursi-Anhängern buchstäblich Deckung. Wann immer die Kräfte des Regimes die Opposition niedermähten, gingen Anhänger des linken Regimeflügels zu Tausenden auf die Straßen, um den Tötungen eine demokratisch erscheinende Politur zu verpassen, die insbesondere bei Kritikern des Staatsstreichs Eindruck schinden sollte. Die linksgerichtete Nationale Heilsfront, geliebt von der westlichen Menschenrechtslobby, behauptet, dass das Mursi-Lager die volle Verantwortung für die gestrigen Massaker trägt.
Tamarod, die radikale Gruppierung, die im Juli zur Absetzung Mursis aufgerufen hatte, wird von der gefeierten, ägyptisch-amerikanischen Journalistin Mona Eltahawy als brillante und inspirierende Bewegung verehrt. Sie sagte, sie „freue sich für die Sicherheitskräfte, dass sie eine so wichtige Rolle spielen in der Konfrontation mit der Gewalt und dem Terror, der von den Muslimbrüdern praktiziert“ wird. Sowohl Frau Eltahawy als auch Tamarod haben die Propaganda des Regimes wiederholt, das Mursi-Lager sei bewaffnet und gefährlich, letztlich terroristisch und daher vernichtungswürdig. Tamarods Vorkehrung, dem Massaker des Regimes den Stempel einer pseudo-liberalen Graswurzelbewegung aufzudrücken, kann nicht überraschen. Inzwischen treten immer mehr Einwände auf. Tamarod ist anscheinend keineswegs so organisch organisiert, wie bisher angenommen – ganz im Gegenteil. Nach dem kürzlich erschienen London Review of Books soll Tamarod in Wirklichkeit „Ratschläge, Informationen und möglicherweise Waffen“ von den Sicherheitskräften erhalten haben.
Nur die Taten der Sicherheitskräfte am Mittwoch zu kritisieren, heißt bestenfalls die halbe Geschichte von dem zu erzählen, was sich in Ägypten in den letzten zwei Monaten abgespielt hat. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte wurde durch westliche Politiker stillschweigend gutgeheißen. Die Putschisten wurden angefeuert von westlichen Menschenrechtsgruppierungen und unterstützt von der ägyptischen Linken. Was wir hier erleben ist nicht einfach nur das harte Durchgreifen bewaffneter Männer, sondern die vom Westen gebilligte Durchsetzung brachialer Stabilität und das Ende des arabischen Frühlings. Die Idee, die dem arabischen Frühling zu Grunde lag, war, dass die Völker der islamischen Welt dazu fähig sind, ihre Schicksale frei von fremden Intervention oder Militärdiktaturen im Inneren selbst zu bestimmen. Dieser positive, frühlingshafte Glaube ist physisch zwar von al-Sisis Handlangern niedergemäht worden, aber ihre Gewehrläufe wurden von sogenannten westlichen „Liberalen“ geladen.