09.11.2018

Geldspeicher statt Ideenschmieden

Von Alexander Horn

Steigende Gewinne bei deutschen Unternehmen resultieren aus schwindenden Investitionen. Da immer weniger auf Produktivitätsfortschritt gesetzt wird, ist unser Wohlstand in Gefahr.

Der Automobilzulieferer Bosch hat sich als der wohl letzte europäische Konzern endgültig von der Idee verabschiedet, eine eigene Batteriezellenfabrik aufzubauen. Auch die jahrelange Forschung daran wird nun eingestellt. Zu groß seien die Wettbewerbsvorteile der fünf marktbeherrschenden asiatischen Wettbewerber und zu ungewiss die „externen Marktfaktoren“. Um bis zum Jahr 2030 einen Marktanteil von etwa 20 Prozent und damit eine führende Position erreichen zu können, müssten 20 Milliarden Euro investiert werden. Das ist ein hohes wirtschaftliches Risiko, das Bosch offenbar auch wegen der ungewissen Entwicklung des Mobilitätsmarkts, der fast vollständig von politischer Regulierung und kaum von wirtschaftlichen Erwägungen getrieben wird, nicht eingehen will. Auf die Frage, was Bosch mit den Milliarden liquider Mittel machen will, die potenziell für die Batteriezellenfabrik zur Verfügung standen, wollte der in der Geschäftsführung für Mobility zuständige Rolf Burlander zwar nicht genauer eingehen, versicherte aber: „Wir haben mehr Ideen als Geld.“1 

Dies bekräftigt Bosch gerade mit dem Bau einer neuen Chipfabrik in Dresden. Diese Milliardeninvestition in neue Fertigungstechnologien soll Bosch als einem der weltweit größten und führenden Automobilzulieferer Wettbewerbsvorteile und langfristige Profitabilität sichern. Bosch bestätigt damit eine insgesamt positive Entwicklung in der deutschen Automobilindustrie, denn dort liegen Investitionen und Produktivitätssteigerungen noch auf einem relativ hohen Niveau. In der Gesamtwirtschaft zeigt sich jedoch ein völlig anderer Trend. Die Unternehmen scheuen die mit Risiken verbundenen langfristigen Investitionen zur Verbesserung ihrer produktiven Kapazitäten. Anstatt die Profitabilität durch zusätzliche Investitionen zu steigern, steigern sie die Gewinne, indem sie ihre Investitionen zurückfahren. Jeder nicht investierte Euro reduziert den abschreibungsbedingten Aufwand und erhöht unmittelbar den Unternehmensgewinn.

Dieser Weg scheint sehr erfolgreich, denn die Unternehmensgewinne steigen seit Jahren deutlich. Das Dividendenaufkommen der Dax-Konzerne für das Jahr 2017 wird um elf Prozent über den Rekordwert des Vorjahres auf 36,7 Mrd. Euro steigen. Durch die hohen Gewinnsteigerungen erreichen die Aktien der Dax-Konzerne trotz des enormen Kursanstiegs der letzten Jahre noch immer Dividendenrenditen von durchschnittlich etwa drei Prozent. Die Ertragskraft der Dax-Unternehmen ist sogar noch deutlich höher als die Dividenden nahelegen. Nach Schätzung der Deutschen Schutzvereinigung für Wertbesitz (DSW) werden im Dax nämlich nur etwa 40 Prozent der Gewinne ausgeschüttet.

„Durch den Investitionsnotstand erreicht der deutsche Kapitalexport seit Jahren kontinuierlich neue Rekordstände.“

Diese Entwicklung ist nicht auf die Dax-Unternehmen beschränkt. Auch die europäischen Aktiengesellschaften erreichen nach einer Analyse von Allianz Global Investors eine gegenüber dem Vorjahr um 7,7 Prozent gesteigerte Dividende. Sie schütten trotz der in Europa nur leidlich überwundenen Folgen der Finanzkrise den Rekordwert von 323 Milliarden Euro an ihre Aktionäre aus. Die Gewinne der deutschen Kapitalgesellschaften (ohne Banken und Versicherungen) sind, wie das Statistische Bundesamt ausweist, seit Anfang der 1990er-Jahre geradezu explodiert. Damals lagen sie noch bei knapp 200 Milliarden Euro jährlich. Im letzten Jahr erreichten sie mit 538 Milliarden Euro schon fast den dreifachen Wert.

Mehr Gewinne, weniger Investitionen

Die komfortable Gewinnsituation, in der sich wohl die meisten Unternehmen in Deutschland befinden, drückt sich auch in den wieder in Mode kommenden Aktienrückkaufprogrammen aus. Fast alle Unternehmen der führenden deutschen Börsenindices haben sich in ihren Hauptversammlungen ermächtigen lassen, Aktienrückkaufprogramme zu starten. In den ersten drei Quartalen des letzten Jahres haben Dax-/M-Dax-Unternehmen für Aktienrückkäufe immerhin 4,2 Milliarden EUR aufgewendet. Die Aktienrückkäufe bieten den Unternehmen einen zusätzlichen Weg der Gewinnverwendung, der sich positiv für die Aktionäre auswirkt. Das zukünftig ausgeschüttete Dividendenvolumen verteilt sich so auf weniger Aktien, was höhere Aktienkurse rechtfertigt.

Die Aktienrückkäufe zeigen, dass die Unternehmen unter Abwägung der Chancen und Risiken davor zurückschrecken, diese Milliarden in das eigene Kerngeschäft zu investieren. Stattdessen setzen sie darauf, Dividendenrendite und Unternehmenswert durch die Anwendung rein finanztechnischer Hebel zu steigern. Die Aktienrückkäufe sind aber nur der extreme Auswuchs eines sich seit Jahren kontinuierlich vergrößernden Luxusproblems, denn die deutschen Unternehmen schwimmen im Geld.

Seit den frühen 2000er-Jahren erzielen sie (ohne Berücksichtigung der Finanzwirtschaft) trotz der deutlich gestiegenen Gewinnausschüttungen an die Eigentümer sogar Finanzierungsüberschüsse. Die Unternehmen bilden also mit den erwirtschafteten und einbehaltenen Gewinnen Ersparnisse, so dass sie netto kein Kapital aufnehmen müssen. Diese Finanzierungsüberschüsse blähen sich von Jahr zu Jahr sogar immer weiter auf und liegen inzwischen bei satten drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Da die Unternehmen keine zusätzlichen Mittel für Investitionen benötigen, haben die Bezieher der von den Unternehmen ausgeschütteten Gewinne keine Möglichkeit, diese wieder in Unternehmen in Deutschland zu investieren. Die Unternehmen haben schlichtweg keine Verwendung dafür. Durch diesen Investitionsnotstand erreicht der deutsche Kapitalexport seit Jahren kontinuierlich neue Rekordstände. 2017 lag der Kapitalexport bei 262 Milliarden Euro, was einem Anteil von acht Prozent des BIP entsprach.

„Es entwickelt sich ein immer krasseres Missverhältnis zwischen Unternehmensgewinnen und Investitionen.“

Die unterlassenen inländischen Investitionen der Unternehmen treiben nicht nur den enormen Kapitalexport Deutschlands, sie sind auch einer der größten Treiber für den enormen Anstieg der Unternehmensgewinne. Die Unternehmen erreichen die hohen Gewinnsteigerungen in der Regel nicht etwa, indem sie verstärkt in Produkt- und Verfahrensinnovationen investieren, die Produktivität steigern und sich durch verbesserte Wettbewerbsfähigkeit im Markt durchsetzen. Stattdessen basiert der Gewinnschub der letzten Zeit auf einem Rückzug aus Investitionsprojekten, die die Wettbewerbsfähigkeit durchgreifend verbessern könnten. In der Entwicklung der Unternehmensinvestitionen – zu denen auch die Ausgaben für Forschung und Entwicklung zählen – zeigt sich, dass die Unternehmen in Deutschland sogar desinvestieren.

So investierten die deutschen Kapitalgesellschaften im letzten Jahr zwar insgesamt 358 Milliarden Euro. Nach Abzug der erforderlichen Abschreibungen verblieben aber lediglich 40 Milliarden als Nettoinvestition. Die jährlichen Nettoinvestitionen erreichen seit der Finanzkrise 2008 im Durchschnitt sogar nur noch etwa 20 Milliarden Euro. Da die Unternehmen ihre hohen Überschüsse nicht für zusätzliche Investitionen ausgeben, entwickelt sich ein immer krasseres Missverhältnis zwischen Unternehmensgewinnen und Investitionen.

Substanzverlust

Die gegenwärtige wirtschaftliche Situation der Unternehmen in Deutschland erinnert an die „Melkkühe“ der von der Boston Consulting Group entwickelten Portfoliomatrix. Dort werden Produkte als Melkkühe bezeichnet, die in ihrem Produktlebenszyklus einen relativ hohen Marktanteil in einem nur geringfügig wachsenden oder statischen Markt erreichen. Sie erzeugen stabile, hohe Cash-Flows und können ohne weitere Investitionen „gemolken" werden. Aus strategischer Perspektive sind diese Produkte hilfreich, da sie es ermöglichen, in die als „Stars“ und „Fragezeichen“ bezeichneten Produkte zu investieren und so die Melkkühe von morgen aufzubauen. In Deutschland scheinen sich die Unternehmen selbst zu Melkkühen entwickelt zu haben, die von erfolgreichen Produkten und Innovationen der Vergangenheit profitieren, denen aber vielversprechende Investitionsprojekte fehlen. Im Gegensatz zu Bosch haben die meisten Unternehmen offenbar viel „mehr Geld als Ideen“.

„Als Folge ihrer niedrigen Nettoinvestitionen zehren die Unternehmen von der Substanz.“

Als Folge ihrer niedrigen Nettoinvestitionen zehren die Unternehmen von der Substanz. In der Industrie ist dies besonders akut, denn dort ist das reale Nettoanlagevermögen im Zeitraum von 1995 bis 2012 sogar um 1,6 Prozent geschrumpft. Eine Untersuchung der Deutschen Bank zeigte schon vor einigen Jahren, dass es nur wenigen Industriesektoren zwischen 1995 und 2012 gelang, den Kapitalstock zu erhöhen. Zu diesen erfolgreicheren Bereichen gehörte die Automobilindustrie, die heute ein Fünftel der Bruttowertschöpfung des gesamten verarbeitenden Gewerbes erwirtschaftet und in diesem Zeitraum ihren Kapitalstock um fast 70 Prozent erhöhen konnte. Umso dramatischer sind die Einbrüche bei den Investitionen in den anderen Industriebereichen. So hinterlässt auch die Energiewende bereits seit Mitte der 1990er Jahre-entsprechende Schleifspuren. Vor allem die energieintensiven Industrien haben in Deutschland desinvestiert und ihren Kapitalstock zum Teil deutlich geschrumpft. Am stärksten betroffen sind die Baustoffindustrie, die Papierindustrie, die Metallerzeugung und -bearbeitung sowie die Chemieindustrie.

Die Entwicklung der Industrieinvestitionen folgt einem gesamtwirtschaftlichen Trend. Seit den 1950er-Jahren ist die damals sehr hohe Nettoinvestitionsquote, also die gesamten von Privatwirtschaft und Staat aufgebrachten Nettoinvestitionen im Verhältnis zum BIP, kontinuierlich rückläufig. Von 20 Prozent2 ist sie über etwa zehn Prozent in den 1970er-Jahren auf nur noch 1,6 Prozent im letzten Jahr abgesackt. Qualitativ neu ist, dass sich dieser Rückgang nun sogar während einer seit Jahren andauernden Wachstumsphase weiter fortsetzt. In Deutschland droht nicht nur in der Industrie, sondern gesamtwirtschaftlich ein Substanzverlust durch die niedrigen Investitionen.

„Die gegenwärtig niedrigen Investitionen hemmen den Produktivitätsfortschritt und damit auch den allgemeinen Wohlstandsanstieg.“

Für Aktionäre und Eigentümer der Unternehmen dürfte es ein verschmerzbares Problem darstellen, dass es der großen Masse der Unternehmen in Deutschland offenbar immer weniger gelingt, geeignete Investitionsprojekte zu finden. Ihnen kann dieser problematische Trend sogar besonders positiv erscheinen, denn die niedrigen Investitionen sorgen zumindest vorübergehend für sprudelnde Gewinne und Allzeithöchststände der Aktienkurse.

Das Investitionsverhalten der Unternehmen stellt aber ein gravierendes gesellschaftliches Problem dar. Unser heutiger Wohlstand beruht auf den vergangenen Fortschritten bei der Steigerung der Arbeitsproduktivität, die durch verbesserte Verfahren und Produkte erreicht wird. Für diese Innovationen sind aber zum Teil erhebliche Investitionen erforderlich. Dazu gehören Forschung und Entwicklung und obendrein werden verbesserte Maschinen und Anlagen für Produktionsumstellungen benötigt. Die gegenwärtig niedrigen Investitionen hemmen diesen Produktivitätsfortschritt und damit auch den aus günstigeren Produkten resultierenden allgemeinen Wohlstandsanstieg. Sie sind eine wichtige Erklärung für die in Deutschland erkennbare Verlangsamung des Wohlstandwachstums.

Es ist ein großes politisches Versäumnis, diesen voranschreitenden wirtschaftlichen Substanzverlust weder zu problematisieren noch dessen Ursachen zu hinterfragen. Stattdessen geht es der Politik seit Jahren nur noch darum, die Folgen dieser Entwicklung zu bemänteln, indem man versucht, den stagnierenden oder gar rückläufigen Wohlstand verschiedener sozialer Gruppen durch immer mehr Umverteilung auszugleichen.

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