28.04.2022

Der Ukrainekrieg und die Dämmerung des Globalismus

Von Frank Furedi

Solidaritätsbekundungen westlicher Globalisten mit Kiew sind unaufrichtig, denn Erstere stellen sich gegen die nationale Selbstbestimmung – ein Prinzip, für das die Ukrainer zu sterben bereit sind.

Bis vor kurzem gingen Politiker, Wissenschaftler und Journalisten davon aus, dass die Globalisierung den Nationalstaat überflüssig gemacht hat. Ihrer Ansicht nach hatten überlegene transnationale Institutionen die nationalen Formen der Staatsführung verdrängt. Und überlegene globalistische Werte hätten engstirnige nationalistische Gefühle verdrängt.

Doch der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat diese Annahmen ins Wanken gebracht. Die Globalisierung löst sich nun in Windeseile vor unseren Augen auf. Das Magazin Foreign Affairs fragte letzten Monat, ob dies „das Ende der Globalisierung“ sei. Larry Fink, der Chef von BlackRock, einer der größten Investmentgesellschaften der Welt, warnt, dass der Krieg „der Globalisierung, die wir in den letzten drei Jahrzehnten erlebt haben, ein Ende gesetzt hat“.

Doch auch wenn der Ukrainekrieg uns den Zerfall der Globalisierung vor Augen geführt und verschärft hat, hat er ihn nicht verursacht. Die Integration der verschiedenen Teile der Welt in die globalen Systeme hat sich seit einiger Zeit verlangsamt. Tatsächlich hat sich der globale Kapitalismus noch immer nicht von der Finanzkrise erholt – der Welthandel im Verhältnis zum globalen BIP ist zwischen 2008 und 2019 sogar um fünf Prozent zurückgegangen.

Im gleichen Zeitraum ist der wirtschaftliche Nationalismus auf dem Vormarsch. Wie Phil Mullan kürzlich in Novo feststellte, wurden „zur Zeit der Finanzkrise 2008 weniger als ein Prozent der Warenimporte durch Maßnahmen der Regierungen der führenden 20 Wirtschaften der Welt begrenzt […]. Bis 2019, am Vorabend der Pandemie, hatte sich diese Zahl mehr als verzehnfacht und lag bei mehr als zehn Prozent des gesamten Handelsvolumens.“

„Die Integration der verschiedenen Teile der Welt in die globalen Systeme hat sich seit einiger Zeit verlangsamt.“

Der Niedergang der Globalisierung begann bereits mit der Finanzkrise 2008 und beschleunigte sich während der Pandemie, als protektionistische Maßnahmen zur Regulierung der Kapital- und Handelsströme eingeführt wurden. Heute, nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine, erleben wir einen Aufstieg der Autarkie und wachsende Spannungen zwischen den Wirtschaftsblöcken. Selbst innerhalb Europas gibt es einen zunehmenden Wettbewerb um den Zugang zu lebenswichtigen Rohstoffen und Energiequellen.

Mit dem Aufstieg von Protektionismus und Autarkie besteht immer ein erhebliches Potenzial, dass wirtschaftliche Konflikte in Wirtschaftskriege umschlagen. Wir haben dies bereits im Zusammenhang mit Russland gesehen, das mit schweren Sanktionen belegt und von den globalen Wirtschaftsinstitutionen abgeschnitten wurde. Die Grenze zwischen Politik und Wirtschaft verschwimmt zusehends. Infolgedessen beginnt die Weltwirtschaft auseinanderzufallen, da sich die Wirtschaftsblöcke voneinander abkoppeln und die Nationen ihre eigenen Interessen verfolgen.

Natürlich werden Nationen und Menschen weiterhin interagieren. Die Globalisierung ist in diesem Sinne noch nicht zu Ende. Abgesehen von Protektionismus und wirtschaftlichem Nationalismus überwindet der Kapitalismus nach wie vor nationale Grenzen, und die internationale Arbeitsteilung bleibt relativ intakt. Aber die Globalisierung hat ihre expansive Dynamik verloren. Und die Regeln und Erwartungen, die lange die globalen Wirtschaftsbeziehungen bestimmten, haben inzwischen viel von ihrer Kraft verloren.

Globalisierung als Ideologie

Der Begriff der Globalisierung beschreibt nicht nur die Verflechtung, die durch Handel, kulturellen Austausch und die Bewegung von Menschen entsteht. Es umfasst auch eine Ideologie – eine Ideologie, die den Status internationaler Institutionen aufwertet und die Rolle der nationalen Regierungen abwertet.

„Die Grenze zwischen Politik und Wirtschaft verschwimmt zusehends.“

Die Befürworter dieser Ideologie argumentieren, dass die nationalen Regierungen nicht mehr in der Lage seien, die Zukunft ihrer Länder zu bestimmen. Politik wird als sinnlos dargestellt, nationale Souveränität als atavistischer Rückschritt und Patriotismus als Absurdität. Carl Bildt, der ehemalige schwedische Ministerpräsident und archetypische Davos-Mensch, behauptete daher 2016, dass „die Politik allmählich umgeformt wird, in einen Wettbewerb zwischen den Befürwortern offener, globalisierter Gesellschaften und den Verteidigern eines nach innen gerichteten Stammeswesens“.

Globalistische Ideologen wie Bildt – „Ich muss gestehen, dass ich fest an die Vorteile der Globalisierung glaube“, sagte er einmal – haben die Globalisierung lange als Mittel zur Erreichung fortschrittlicher Ziele propagiert. Aus ihrer Sicht bieten globale Institutionen eine positive Alternative zu den überholten und engstirnigen Praktiken der Nationalstaaten.

In den letzten Jahrzehnten wurde der Standpunkt eines solchen „aufgeklärten“ Kosmopolitismus am systematischsten von dem deutschen Soziologen Ulrich Beck ausformuliert. Er forderte eine „kosmopolitische Revolution“, um die „Lüge des nationalen Zeitalters“ zu überwinden.1

Beck argumentierte, dass die Grundbegriffe der modernen Gesellschaft –„Haushalt, Familie, Klasse, Demokratie, Herrschaft, Staat, Wirtschaft, Öffentlichkeit, Politik usw.“ – „von den Fixierungen des methodologischen Nationalismus befreit und im Kontext des methodologischen Kosmopolitismus neu definiert und konzeptualisiert werden müssen“.2 Was Beck als „Fixierungen des methodologischen Nationalismus“ bezeichnet, bezieht sich auf die selbstverständlichen Bedeutungen, die das Verhalten der Mitglieder einer Gemeinschaft leiten.

„Globalistische Ideologen haben die Globalisierung lange als Mittel zur Erreichung fortschrittlicher Ziele propagiert.“

Diese Form des Kosmopolitismus stellt sogar den Status der nationalen Staatsbürgerschaft in Frage. Sie suggeriert, dass diese irrelevant geworden ist, weil die Kräfte der Globalisierung die nationalen Grenzen durchlässig gemacht und die Macht der nationalen Institutionen untergraben haben. Wie eine Verfechterin dieser Ideologie argumentiert, wird die Staatsbürgerschaft zunehmend „entnationalisiert“. Sie sei jetzt „global“, „transnational“ oder sogar „postnational“3, da die Staatsbürgerschaft „nicht mehr eindeutig in nationalen politischen Kollektiven verankert“ ist.4

Die Abwertung der nationalen Staatsbürgerschaft geht Hand in Hand mit der Abwertung der demokratischen Entscheidungsfindung. Aus dieser Perspektive sind die Kräfte der Globalisierung so mächtig, dass sie die souveräne Entscheidungsfindung einschränken und letztlich außer Kraft setzen. Alan Greenspan, der damalige Vorsitzende der US-Notenbank, drückte es 2007 so aus: „Es macht kaum einen Unterschied, wer der nächste Präsident sein wird. Die Welt wird von Marktkräften regiert.“ Wie der Historiker Quinn Slobodian 2018 in „Globalists: The End of Empire and the Birth of Neoliberalism“ erklärte, schmeckte das für Greenspans Kritiker nach einer neuen Form des Imperialismus, bei dem „die Globalisierung den Kolonialismus ersetzt“.5

Rückblickend ist klar, dass es bei der Globalisierung nicht nur um die Förderung des freien Handels und Kapitalverkehrs ging. Die Globalisierung war vor allem ein politisches Projekt, ein Projekt der „Politik und des Rechts“, wie Slobodian es ausdrückt.6 Trotz ihres formalen Bekenntnisses zu freien Märkten sahen die globalistischen Neoliberalen die Weltwirtschaft als viel zu wichtig an, um sie den spontanen Kräften des Marktes zu überlassen. Sie musste daher durch Regeln reglementiert werden, die von internationalen Institutionen durchgesetzt wurden.

Nach den Worten von John Ikenberry, einem globalistischen Politikwissenschaftler und Apologeten der US-Vorherrschaft, sind die Amerikaner weniger daran interessiert, die Welt zu beherrschen, als vielmehr daran, „eine weltweite Herrschaft der Regeln zu schaffen“. Der Historiker Adam Tooze äußerte sich ähnlich – die Globalisierung sei „eine Institution, ein Artefakt einer bewussten politischen und rechtlichen Konstruktion“.7

„Die Abwertung der nationalen Staatsbürgerschaft geht Hand in Hand mit der Abwertung der demokratischen Entscheidungsfindung.“

In der Praxis hat die Globalisierung dazu geführt, dass internationale Institutionen und NGOs Entscheidungsbefugnisse übernommen haben, die in der Vergangenheit den nationalen Regierungen vorbehalten waren. Viele westliche Regierungen haben diesen Trend vorangetrieben, um die Verantwortung für unpopuläre Maßnahmen an Institutionen wie den IWF, die Welthandelsorganisation oder die EU auszulagern – und sich so von dem demokratischen Druck im eigenen Land abzuschirmen. Diese globalistischen Institutionen entpolitisieren daher die Entscheidungsfindung, begrenzen den Einfluss der nationalen Regierungen deutlich und schränken die Funktionsweise der Demokratie stark ein. Im Jahr 2015, als die Mehrheit der griechischen Wähler ein von der EU auferlegtes Rettungsabkommen ablehnte, brachte der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble die globalistische Haltung gegenüber dem demokratischen Prozess auf den Punkt. „Wahlen ändern nichts“, sagte er, „es gibt Regeln“.

Heute hat Schäubles Behauptung, dass „es Regeln gibt“, viel an Kraft verloren. Wenn der Wettbewerb in einen Konflikt und potentiell in einen Wirtschaftskrieg umschlägt, stehen die Regeln, die die internationalen Beziehungen seit der Nachkriegsordnung bestimmt haben, nicht mehr außer Zweifel. Gleichzeitig wird auch die Abwertung der Macht des Nationalstaates unhaltbar – insbesondere in einer Zeit, in der diese Macht eine solch starke geopolitische Bedeutung erlangt hat. Nach der Invasion in der Ukraine ist klar, dass Nationalstaaten und Grenzen eben doch wichtig sind.

Globalismus und Kulturkampf

Die Globalisierungsideologie ist nicht nur gegen das Ideal der Souveränität und Selbstbestimmung gerichtet. Sie positioniert sich auch gegen das historische Erbe der westlichen Kultur und die mit Tradition, Familie und Gemeinschaft verbundenen Werte. Daher sind viele Befürworter der Globalisierung auch glühende Kulturkämpfer, die entschlossen sind, dem Rest der Welt eine amerikanische Form von Identitätspolitik und „woke“ Werte aufzuerlegen. Dies führt dazu, dass sie wichtige geopolitische Ereignisse durch das simplifizierende Prisma der Kulturkriege interpretieren.

So wird der Einmarsch Russlands in die Ukraine von Globalisten als entfernter Ausdruck von Konflikten betrachtet, die näher an der Heimat liegen. Manche gehen sogar so weit, Russlands Vorgehen mit populistischen Bewegungen und anti-woken Anhängern der nationalen Souveränität in Verbindung zu bringen. In diesem Sinne warnt Thomas Zimmer im Guardian, dass „Amerikas Kulturkrieg in einen echten Krieg ausartet“. In der New York Times behandelt Paul Krugman Putin als Stellvertreter für alles, was er an Trump, dem Brexit und anderen vermeintlich populistischen Anliegen hasst. „Die Verwundbarkeit [des Westens] rührt nicht vom Niedergang traditioneller Familienwerte her“, schreibt er, „sondern vom Niedergang traditioneller demokratischer Werte, wie dem Glauben an die Rechtsstaatlichkeit und der Bereitschaft, Wahlergebnisse zu akzeptieren, die nicht so ausfallen, wie man es sich wünscht.“

„Nach der Invasion in der Ukraine ist klar, dass Nationalstaaten und Grenzen eben doch wichtig sind.“

In einem anderen in der New York Times erschienenen Meinungsbeitrag versucht Michelle Goldberg, die Ukraine im Kulturkrieg auf der Seite der Globalisten einzuspannen, indem sie behauptet, die Ukraine versuche, die Welt für einen „idealisierten liberalen Internationalismus“ zu gewinnen. Sie macht Selenskyj sogar zu einem Helden des Globalismus. Der ukrainische Präsident spreche „die höchsten Erwartungen des westlichen Publikums an, das nach Inspiration lechzt“, behauptet sie.

David Brooks nimmt in der New York Times einen objektiveren Standpunkt ein und stellt fest, dass „wirtschaftliche Rivalitäten jetzt mit politischen, moralischen und anderen Rivalitäten zu einem globalen Wettbewerb um die Vorherrschaft verschmolzen sind“. Und weiter: „An die Stelle der Globalisierung ist etwas getreten, das sehr nach einem globalen Kulturkampf aussieht.“

Brooks hat Recht, dass der gegenwärtige globale Konflikt „nicht nur ein politischer oder wirtschaftlicher Konflikt“ ist – es geht auch, wie er es ausdrückt, um eine „Ablehnung der westlichen Art und Weise, Dinge zu tun, durch Hunderte Millionen von Menschen an einer Vielzahl von Fronten“. Aber er irrt, wenn er annimmt, dass der aktuelle Kulturkampf nur von Autokraten geführt wird, „die ihre Macht ausbauen und Chaos in der demokratischen Welt säen wollen“ und die „heute routinemäßig kulturelle Unterschiede, religiöse Spannungen und Status-Ressentiments als Waffe einsetzen, um Anhänger zu mobilisieren, Verbündete zu gewinnen und ihre eigene Macht auszubauen“. Immerhin ist seine eigene Seite seit Jahren damit beschäftigt, denselben Kulturkampf zu schüren und zu führen. Die Projektion amerikanischer Soft Power mag harmlos erscheinen, aber sie läuft auf den Versuch hinaus, dem Rest der Welt globalistische Werte aufzuzwingen.

Wie Goldberg stellt auch Brooks die Ukraine auf die Seite der Progressiven und Globalisten. „Was wir ‚den Westen‘ nennen, ist keine ethnische Bezeichnung oder ein elitärer Country-Club“, schreibt er. „Die Helden der Ukraine zeigen, dass [der Westen] im besten Fall eine moralische Errungenschaft ist und im Gegensatz zu seinen Rivalen danach strebt, allen Menschen Würde, Menschenrechte und Selbstbestimmung zu gewähren.“ Für Brooks ist der Kampf der Ukraine um ihr nationales Überleben kaum mehr als ein Aushängeschild für die amerikanische Wokeness.

„Die wichtigste Frage, um die es in der Ukraine geht, ist das Recht auf nationale Selbstbestimmung.“

Unaufrichtige Solidaritätsbekundungen

Es gibt einen entscheidenden Aspekt des Krieges in der Ukraine, der von den Befürwortern der Globalisierung gerne heruntergespielt wird – nämlich die Tatsache, dass die Ukrainer ihre nationale Souveränität verteidigen. Das zeigt, dass die Solidaritätsbekundungen der Globalisten mit der Ukraine unaufrichtig sind. Sie sind gegen genau das Prinzip, für das die Ukrainer zu sterben bereit sind.

Schließlich sieht die globalistische Vorstellungswelt auf die Nationalstaatlichkeit herab. Deshalb spielen die globalistische Elite und ihre Institutionen eine so zentrale Rolle im Kulturkampf – weil sie einen Kampf gegen nationale Kulturen und Traditionen führen. Außerdem haben sich die globalistischen Eliten durch ihre Teilnahme am Kulturkampf noch weiter vom Alltag und der politischen Gemeinschaft ihrer eigenen Nationen entfernt. Sie stehen nun ihren Freunden in transnationalen Institutionen wie der EU oder dem IWF viel näher als ihren Mitbürgern, deren Werte und Weltanschauung sie mit Verachtung betrachten.

Die Feindseligkeit der Globalisten gegenüber der nationalen Souveränität ist nicht nur kulturell oder ideologisch bedingt. Sie wird durch ihre Angst vor der Macht des Volkes genährt. Denn nur innerhalb und durch die Nation können die Menschen ihre Stimme finden und ihre Interessen zum Ausdruck bringen. Die demokratische Entscheidungsfindung ist territorial begrenzt, und die Macht der Bürger kann nur durch nationale Institutionen ausgeübt werden. Wenn das globalistische Establishment also das angreift, was es die „Kräfte des Populismus“ nennt, ist sein eigentliches Ziel die demokratische Entscheidungsfindung.

Die wichtigste Frage, um die es in der Ukraine geht, ist das Recht auf nationale Selbstbestimmung. Im gegenwärtigen unübersichtlichen geopolitischen Klima ist es von entscheidender Bedeutung, dieses Prinzip konsequent hochzuhalten. Das bedeutet, es zu verteidigen, wann immer es angegriffen wird, sei es von Russland, von den Föderalisten in Brüssel oder von den Ideologen und Institutionen des Globalismus.

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