01.09.2002
Angst frisst Habgier
Analyse von Phil Mullan
Das WorldCom-Debakel ist kein Zeichen einer realen Wirtschaftskrise. Es ist weitaus schlimmer.
Die Aufdeckung des bislang angeblich größten Bilanzschwindels der amerikanischen Geschichte beim Telekommunikationsriesen WorldCom war nur eine von vielen Affären dieser Art, die in den Vereinigten Staaten und auf den internationalen Märkten in den letzten sechs Monaten für Wirbel gesorgt haben. Nach Enron, Arthur Andersen, Tyco, Global Crossing, ImClone, WorldCom, Xerox scheint die gesamte amerikanische Wirtschaft von einem seltsamen Krisentaumel erfasst.
Rezessionen decken zwar immer auf, was die Bilanzprüfer – ob versehentlich oder absichtlich – übersehen haben, aber dieses Mal ist die Sache anders: Seltsam an der aktuellen „Krise des Kapitalismus“ ist, dass sie in genau dem Moment eintritt, in dem die amerikanische Wirtschaft nach der Rezession von 2001, wenn auch verhalten, wieder zu wachsen beginnt. Manche Beobachter bezweifeln sogar, dass in den USA im vergangenen Jahr eine Rezession stattfand, oder sie werten sie zumindest als außergewöhnlich mild. Technisch definiert man als Rezession zwei aufeinander folgende Quartale mit negativem Wachstum – und das gab es 2001 in den USA nicht. Die Diskrepanz zwischen einer flach, aber stetig wachsenden realen Wirtschaft und den durch Skandalmeldungen verunsicherten Aktienmärkten liefert einen Hinweis darauf, was wirklich in der amerikanischen Wirtschaft los ist.
“Seltsam an der aktuellen „Krise des Kapitalismus“ ist, dass sie in genau dem Moment eintritt, in dem die amerikanische Wirtschaft wieder zu wachsen beginnt.”
In den letzten 30 und vor allem den letzten 10 Jahren hat die reale Wirtschaft an Bedeutung verloren, während eine neue Finanzwirtschaft in den Vordergrund trat. Die Industrie hat sich tendenziell in Regionen der ehemaligen Dritten Welt verlagert, während die Lücke in den westlichen Ländern durch Dienstleistungen gefüllt wurde.
Diese wirtschaftlichen Trends sind auch das Ergebnis kultureller und gesellschaftlicher Veränderungen. Wirtschaftswachstum gilt nicht mehr wie einst als erstrebenswert, und Unternehmen verfolgen unter dem Eindruck der Forderung nach Umweltschutz und Nachhaltigkeit neue soziale und ethische Grundsätze. Selbst in der kalten Welt der wirtschaftlichen Erfolgsrechnung, in der es einst nur um Produktion und Sachwerte ging, gewinnen Indikatoren für Zufriedenheit, Kreativität und andere immaterielle Werte an Bedeutung. Man denke nur an das große Echo auf Richard Floridas Buch The Rise of the Creative Class in den USA in den letzten Monaten.*
Dieses wachstumsfeindliche Klima auf der einen und reale materielle Veränderungen auf der anderen Seite haben dazu geführt, dass der „schmutzige“ Prozess der Herstellung von Produkten hinter den Aktivitäten auf den Finanzmärkten zurücktrat. Das wurde bis vor kurzem noch optimistisch als New Economy gefeiert – eine Wirtschaft des Wissens, der Innovation und der Informationstechnik. In Wirklichkeit haben aber einfach Finanztransaktionen im Unternehmensalltag zunehmend eine Bedeutung gewonnen, die mit den realen wirtschaftlichen Gegebenheiten in keinem rechten Verhältnis mehr steht.
Natürlich geht die Produktion weiter, denn von Ideen und Kreativität allein kann die Gesellschaft nicht leben. Aber die Produktion büßte im Zuge der 90er-Jahre nicht nur ihren ideellen Status ein, sondern auch ihre Dynamik. Die Welt versank in eine anhaltende Periode der Wachstumsschwäche, die nur oberflächlich von den Luftblasen der Finanzmärkte verdeckt wurde. Angetrieben wurde die Wirtschaft in den 90er-Jahren durch Übernahmen, Fusionen und Finanztransaktionen – nicht durch Produktivität und reale Wirtschaftsleistung. Ein Indiz dafür war die zunehmende Kluft zwischen den Aktienkursen vieler Unternehmen und ihrem tatsächlichen Gewinnpotenzial.
Problematisch an dieser Entwicklung ist, dass eine Finanzwelt, die sich so weit von der realen Wirtschaftsaktivität entfernt, ihrer Natur nach instabil ist und dazu neigt, zu implodieren.
Das war der Hintergrund der asiatischen Finanzkrise von 1997 und 1998: Damals wurden junge, aber kräftige Wirtschaften durch massive Zuflüsse spekulativen Finanzkapitals überwältigt. Nach diesem Crash floss das Geld aus Asien ab in das Internet und die IT-Wirtschaft. Doch in einer Kultur, die zwar von Technik besessen ist, aber nicht mehr die strategische Fähigkeit zu haben scheint, Technik wirklich für produktive Zwecke einzusetzen, musste auch diese Blase irgendwann platzen. Der berühmte Dotcom-Boom war ebenfalls eher finanzieller als realer Natur und endete im März 2000.
Was heute in Amerika stattfindet, ist die Fortschreibung der Abwicklung dieses Finanzbooms. Zunächst waren vor allem junge Internetfirmen mit geringer Kapitaldecke betroffen; jetzt erleben wir eine Ausbreitung der Krise vor allem auf die Technologie-, Medien- und Telekommunikationsbranchen (TMT).
Die Debatte über WorldCom konzentriert sich meist auf die Frage, wer wann was tat (oder verbarg). Doch Skandale, Korruption, Betrug oder „kreative Buchhaltung“ sind im Kapitalismus nicht neu. Man denke nur an berüchtigte Namen wie Michael Milken, BCCI, Polly Peck, Robert Maxwell oder Barings. Was heute anders ist, ist, dass inzwischen ein viel größerer Anteil amerikanischer Unternehmen – und für europäische gilt hier nichts anderes – Bestandteile der neuen Financial Economy geworden sind, in der Finanztransaktionen oft nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck sind.
Viele Unternehmen betrachten heute die kurzfristigen Ergebniszahlen und die Aktienkursentwicklung – also das, was man beschönigend als Shareholder Value bezeichnet – als die ausschlaggebenden Erfolgskriterien. Es ist daher wenig überraschend, dass viele Vorstandsvorsitzende, Aufsichtsräte und deren Finanzberater ein aggressives Ertragsmanagement betreiben, das in Extremfällen in fiktive Buchhaltungsmanöver wie bei WorldCom, Xerox und anderen Firmen ausufert.
Indem die Implosion der aufgeblähten Finanzwirtschaft in den Vereinigten Staaten voranschreitet, werden die anfälligsten und exponiertesten Bereiche seiner Unternehmenswelt diesem Reinigungsprozess anheimfallen. Dieser Prozess ist zu einem gewissen Grad ein Ersatz für die reinigende Rolle traditioneller Rezessionen. Im Zuge früherer Rezessionen wurde Kapital zerstört, die Arbeitslosigkeit wuchs, schwache Unternehmen gingen bankrott, und die überlebenden gingen gestärkt aus diesem Reinigungsprozess hervor.
Da aber die reale Wirtschaftsentwicklung seit den 90er-Jahren stagniert, waren die Spannungen, die früher Rezessionen auslösten, eher begrenzt und gedämpft. Dies erklärt, wieso im Zuge der Mini-Rezessionen des vergangenen Jahres nur wenig Kapital zerstört wurde und auch die Arbeitslosigkeit kaum zunahm. Unsere heutigen Unternehmenszusammenbrüche spielen zwar eine ähnliche Rolle wie frühere Rezessionen, aber nur in den begrenzten Bereichen, in denen dies erforderlich ist. Zum Beispiel sehen wir heute einen enormen Wertverlust der physischen Kabelnetze, in die eine Reihe großer Telekommunikationsfirmen, die heute kurz vor dem Konkurs stehen, in den späten 90er-Jahren, als Geld billig zu haben war, überinvestiert hatte.
“Was Führungskräfte in den Unternehmen heute auszeichnet, ist eher relative Zurückhaltung, Vorsicht und begrenzter Ehrgeiz.”
Die Auswirkungen solcher Zusammenbrüche auf die Gesamtwirtschaft sind zu gering, um neue Wachstumsimpulse auszulösen, wie das bei früheren Rezessionen der Fall war. Die überschüssige Liquidität wird sich einfach neue Anlagemöglichkeiten suchen. Vielleicht ist die Immobilienbranche die nächste Seifenblase, die platzen wird. Die Finanzwirtschaft wird weiter leben, wenn auch in neuen Formen. Gravierender ist aber der Umstand, dass die durch die Firmenzusammenbrüche in den Vereinigten Staaten ausgelöste Krisenstimmung Reaktionen auslöst, die die reale Wirtschaft nur noch mehr in Mitleidenschaft ziehen werden.
Schon sind viele dabei, die jüngsten Ereignisse als gerechte Strafe für die Habgier und Verantwortungslosigkeit amerikanischer Manager auszulegen. Aber diese Art Kritik war selten so unangebracht wie heute. Was Führungskräfte in den Unternehmen heute auszeichnet, ist eher relative Zurückhaltung, Vorsicht und begrenzter Ehrgeiz. Die meisten scheuen Investitionen in wirkliche strategische Expansionsprojekte und mischen lieber immer wieder die Finanzkarten neu.
Ein Großteil der Kommentatoren warnt in den letzten Monaten vor einem Vertrauensverlust der Anleger und Verbraucher. Viel problematischer ist aber der Vertrauensmangel in den Unternehmen selbst. Sie haben jede Krise der letzten Jahre übertrieben und so ihr Selbstvertrauen mit negativen Folgen für Investitionen und Wachstum immer weiter untergraben.
” Der Ruf nach größerer Vorsicht, Kostenreduzierungen und stärkerer Regulation führt zu noch weniger Investitionen in künftiges Wachstum.”
Seit dem russischen Schuldenmoratorium von 1998 erleben wir mit den Dotcom-Zusammenbrüchen, den Terrorangriffen vom 11. September und nun den Wirtschaftskrisen in Argentinien und Brasilien eine Spirale der Verunsicherung in der Geschäftswelt. Die Reaktion auf jedes dieser Ereignisse war eine ständig stärker werdende Risikoaversion. Jedes Mal, wenn sich herausstellt, dass ein weiteres Unternehmen in Schwierigkeiten ist, wird die Stimmung auf den Führungsebenen noch konservativer und zurückhaltender.
Der Ruf nach größerer Vorsicht, Kostenreduzierungen und stärkerer Regulation, der immer einmütiger in Unternehmenskreisen erhoben wird, führt zu noch weniger Investitionen in künftiges Wachstum. Die Unternehmen werden ihre Geschäftspläne zurückschrauben, während die Banken noch weniger geneigt sein werden, Geld für „riskante“ Anlagen bereitzustellen. Am 24. Juni 2002 stellte die Zeitschrift Business Week fest, das gesunkene Vertrauen der Vorstände habe bereits zu einem Rückgang der Ausrüstungs- und Expansionsinvestitionen geführt: „Die nahezu täglichen Meldungen über Bilanzskandale bewegen Vorstandsvorsitzende dazu, sich auf Kostenreduzierung und Buchhaltung zu konzentrieren statt auf Anlageninvestitionen oder Expansion.“
Die Skandale bei WorldCom, Tyco oder Enron sind nicht Zeichen einer von den wirtschaftlichen Grunddaten angetriebenen Krise. Sie sind in vieler Hinsicht allerdings schlimmer als klassische Wirtschaftskrisen. An die Stelle des alten Wirtschaftszyklus mit Boom, Krise und Aufschwung tritt eine anhaltende Periode schwacher produktiver Aktivität und Vergeudung wirtschaftlicher Potenziale, unterbrochen durch die jeweils neueste Turbulenz an den Finanzmärkten. Und das sind keine besonders erfreulichen Aussichten.