30.06.2017

Verteidigung der Massen

Essay von Tom Slater

Titelbild

Foto: Magnus D via Flickr / CC BY 2.0

Seit dem Brexit-Votum treten überwunden geglaubte antidemokratische Ressentiments zu Tage. Wie im 19. Jahrhundert wird „einfachen Menschen“ abgesprochen, politische Entscheidungen treffen zu können.

„Dumme und ignorante Menschen gibt es in jedem Land, aber ihre arglose Dummheit ist meistens nicht von Belang, weil sie in der Regel keine folgenschweren und unwiderruflichen Entscheidungen hinsichtlich der Zukunft ihres Staates treffen dürfen.“ So las sich ein Artikel im britischen Magazin Prospect am Vorabend des EU-Referendums. „Es ist an der Zeit, dass sich die Eliten gegen die ignoranten Massen erheben“, lautete eine aufsehenerregende Schlagzeile der Zeitschrift Foreign Policy nach der Volksabstimmung. „Wie jede Art von Fundamentalismus“, bemerkte ein Tory-Politiker, der für den Verbleib in der EU gestimmt hatte, „bedient sich der demokratische Extremismus einer edlen Idee, nämlich dass die politische Meinung jedes Einzelnen gleich viel wert sei, und treibt diese zu weit.“ Mit dem Brexit traten erstmals seit vielen Jahrzehnten die antidemokratischen Ressentiments der gesellschaftlichen Eliten offen zu Tage. Ihre Sprache klingt oft so, als stammte sie direkt aus dem 19. Jahrhundert.

Die kalte, unverhohlene Verachtung, mit der Journalisten, Akademiker und Politiker auf die Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, reagiert haben, ist ziemlich bemerkenswert. Die Tatsache, dass sie sich oft als Verteidigung der repräsentativen parlamentarischen Demokratie gegen die angeblich instabile direkte Demokratie ausgibt, kann die eigentliche Botschaft nicht verschleiern: Das Volk ist zu dämlich, zu emotional und zu moralisch unbedarft, um eine ernsthafte Rolle im politischen Leben spielen zu können. „Politische Entscheidungen mit weitreichenden Auswirkungen wegen eines Gefühls in einem gewissen Moment zu treffen, wird nur dazu führen, dass populistische Stimmungen über sachkundige Entscheidungsfindung triumphieren“, schreibt der ehemalige Untergeneralsekretär der UNO, Shashi Tharoor, ohne einen Hauch von Selbsterkenntnis.

„Mit dem Brexit traten erstmals seit vielen Jahrzehnten die antidemokratischen Ressentiments der gesellschaftlichen Eliten offen zu Tage.“

Sogar Kommentatoren, die sich als radikal und progressiv betrachten, betonten die Notwendigkeit einer Elite, welche den Willen des Volkes mäßigt und die Politik von den Massen abschirmt. In einem Interview mit der Webplattform openDemocracy zog der marxistische Philosoph Slavoj Žižek über das Referendum her. Wie ein Echo auf Walter Ulbricht („Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben“) sprach sich der Slowene für die „Illusion einer freien Entscheidung“ aus, die „von der Elite diskret begleitet“ werde. Elitismus und Technokratie, sogar eine sanfte Diktatur, werden als notwendige Korrektive für die Ignoranz des Volkes dargestellt: „Vielleicht“, so ein amerikanischer Akademiker, „ist das Vereinigte Königreich es seinen Bürgern schuldig, gegen ihren erklärten Willen zu handeln.“

Es wäre verlockend, dies nur als ein kurzes Aufflackern, als einen emotionalen Ausbruch einer verschmähten Elite zu sehen, die wild entschlossen ist, den Status quo aufrechtzuerhalten. Die Schamlosigkeit, mit der gegen die Demokratie (und damit gegen das Volk) argumentiert wird, ist wirklich erstaunlich. Sie wirkt ungewohnt in einer Zeit, in der die Herrschenden sich normalerweise zumindest die Mühe machen, die Bevölkerung vorsichtig zu umgehen, anstatt ihre Argumente und Leidenschaften offen herauszufordern. Aber die Geschichte zeigt uns, dass die Reaktion der Elite auf den Brexit nichts ungewöhnliches ist. Wenn man auf den jahrhundertelangen Kampf um die Demokratie zurückblickt, fällt auf, dass sich antidemokratische Argumente im Laufe der Jahrhunderte erstaunlich wenig verändert haben.

Die Wut der Elite auf die Massen wird vor allem dann offenbar, wenn letztere, wie im Fall des Brexit, drohen, die politische Ordnung auf den Kopf zu stellen. Als der konservative Staatsphilosoph Edmund Burke 1774 auf einer Versammlung in Bristol eine Rede hielt, galt es noch als ausgemacht, dass das Parlament nicht an den Willen seiner Wähler gebunden sei. „Seine Meinung zu äußern ist das Recht eines jeden Menschen“, sagte er. „Aber bindende Anweisungen, Mandate, denen ein Parlamentarier blind und vorbehaltslos folgen muss, für die er sein Wahlrecht nutzen und für die er einstehen soll, auch wenn sie klar seiner Urteilskraft und seinem Gewissen widersprechen, das alles sind Dinge, die den Gesetzen unseres Landes völlig fremd sind.“ Als allerdings im Laufe des 19. Jahrhunderts in der britischen Arbeiterklasse der Ruf nach dem Wahlrecht lauter wurde, wurde zunehmend mit härteren Bandagen gekämpft.

„Sogar Kommentatoren, die sich als radikal und progressiv betrachten, betonten die Notwendigkeit einer Elite, welche den Willen des Volkes mäßigt.“

„Ich meine, dass es das ewige Privileg der Ungebildeten ist, von den Verständigeren regiert und von jenen auf den rechten Pfad geführt zu werden, die es besser wissen als sie selbst. Dies ist das erste ‚Menschenrecht‘, im Vergleich zu dem alle anderen Rechte nichtig erscheinen“, schrieb 1850 der schottische Essayist Thomas Carlyle. Er schrieb das im Kontext des Aufstands der Chartisten, einer Arbeiterbewegung, die für die Ausweitung des Stimmrechts in Großbritannien kämpfte. Die 1830er und 40er Jahre, als die Chartisten im ganzen Land Reden vor tausenden von Arbeitern hielten, gegen den Staat gerichtete Aufstände entfachten und das Parlament mit Petitionen konfrontierten, die mit mehr Unterschriften versehen waren, als es stimmberechtigte Bürger im Königreich gab, sind das beste historische Pendant zur aktuellen elitären Stimmung.

Demagogen

1842 legten die Chartisten dem Parlament ihre zweite Petition vor, die 3,3 Millionen Unterschriften trug. Diese wurde mit 287 zu 49 Stimmen abgelehnt. Am auffälligsten an den Reden, die gegen die Petition gehalten wurden, war, dass viele nicht glauben wollten, dass die Petition den echten Willen des Volkes repräsentierte. Thomas Babington Macaulay, ein Parlamentsmitglied der Whigs, hielt vielleicht die denkwürdigste Rede, in der er darauf bestand, dass die verrohte Klasse der Armen von chartistischen Demagogen manipuliert worden sei:

„Stellen Sie sich einen wohlmeinenden, betriebsamen Handwerker vor, der seine Frau und seine Kinder liebt. Schlechte Zeiten brechen plötzlich herein. Er sieht, wie die Frau, die er liebt, täglich dünner und kränklicher wird. Seine Kinder schreien nach Brot, aber er hat keines. Dann tauchen professionelle Agitatoren und Verführer auf und erzählen ihm, dass an sich genug und mehr als genug für alle da sei, und er so wenig besitzt, weil begüterte Gentlemen, Fondsinhaber, Bankiers, Fabrikanten, Eisenbahngesellschafter und Ladenbesitzer zu viel besäßen. Ist es verwunderlich, dass ein solcher armer Mann leicht getäuscht werden kann und bereitwillig eine derartige Petition unterzeichnet?“

„Antidemokratische Argumente haben sich im Laufe der Jahrhunderte erstaunlich wenig verändert.“

Die Parallelen zum Brexit, als behauptet wurde, dass Vertreter der Leave-Kampagne wie Nigel Farage und Boris Johnson die nichtsnutzige Unterschicht aufgestachelt hätten, sind offensichtlich.

Macaulay präsentierte seine Ablehnung der Petition als Gewissensentscheidung. Die Forderung der Chartisten, das Wahlrecht auszuweiten, und ihr Aufstand gegen Armut und Ungleichheit würden die Gesellschaft in „Anarchie und Gesetzlosigkeit“ stürzen. Die Armen, meinte Macaulay, würden unbewusst gegen ihre eigenen Interessen handeln. Es obliege somit der Elite, sie vor sich selbst zu schützen. „Hege ich irgendeinen Groll gegen diese armen Menschen?“ fragte er. „Nicht mehr als ein Kolonialverwalter in Indien gegenüber den armen Bauern hegt, die sich in Zeiten des Mangels vor den Kornspeicher versammeln … Ich würde ihnen nicht die Schlüssel zum Kornspeicher geben, da ich weiß, dass ich, wenn ich das täte, den Mangel in eine Hungersnot verwandeln würde.“ In seiner Perspektive verlangten die Armen nach „der Freiheit, sich selbst zu vernichten.“

Bildung

Damals wie heute wurde die Ignoranz des Volkes als eine Tatsache des Lebens angesehen, die man nicht ignorieren dürfe. Macaulay deutete an, dass er nur gegen das allgemeine Wahlrecht sei, solange es keine allgemeine Schulbildung gebe. In ähnlicher Weise bestand der liberale Philosoph John Stuart Mill darauf, dass Armut allein kein Grund sein dürfe, Menschen vom Wahlrecht auszuschließen. Es sollten jedoch gewisse Bildungstests durchgeführt werden, um sicherzustellen, dass das Parlament von der Vernunft und nicht von blinden Leidenschaften regiert werde. „Nur ein Narr“, schrieb er 1861 in seiner Abhandlung „Betrachtungen über die repräsentative Regierung“, „fühlt sich durch die Ansicht angegriffen, dass es andere Menschen gibt, deren Meinung und sogar deren Wünschen eine größere Berücksichtigung zustehen als den seinen.“ Mill trat folglich für ein Mehrstimmenwahlrecht für Hochschulabsolventen und Akademiker ein. Mitglieder der Arbeiterklasse sollten sich einer Eignungsprüfung stellen.

„John Stuart Mill trat für ein Mehrstimmenwahlrecht für Hochschulabsolventen und Akademiker ein.“

Die Behauptung, dass es dem Volk an Bildung fehlt, lässt außer Acht, dass es in der Politik um mehr als Fakten geht. So wie sich Werte und Prinzipien nicht im Labor untersuchen lassen, so ist Politik kein Expertenhandwerk. Schon die Chartisten argumentierten, dass das gemeine Volk nicht nur ein besseres Politikverständnis habe, als die Eliten ihm zutrauten, sondern dass es sogar eine bessere Einschätzung gesellschaftlicher Probleme habe als die abgehobenen Eliten. „Wir haben ungelernte Handwerker getroffen – Männer die nie vorgaben, gebildet zu sein – deren Ansichten zu politischen Themen klarer und deren Einschätzungen zutreffender waren als bei 90 Prozent der ehrenwerten Parlamentsmitglieder“, lautete ein Artikel in der Zeitung der Bewegung.

Als der Kampf um das Wahlrecht im 20. Jahrhundert weitergeführt wurde, stellte sich das Bildungsargument als genau die snobistische Ausrede heraus, die es war. Wie der Anglist John Carey in seinem einflussreichen Buch „The Intellectuals and the Masses“ von 1992 feststellt, änderten die Einführung der allgemeinen Schulpflicht gegen Ende des 19. Jahrhunderts und der rapide Anstieg der Alphabetisierung in der Arbeiterklasse nichts an der Verachtung, welche die Elite ihr entgegenbrachte. Die großen Tageszeitungen, die entscheidend zur Entwicklung einer Politik der Massen beitrugen, bestätigten laut dem amerikanischen Lyriker T.S. Eliot nur die Vorurteile der gedankenlosen, selbstgefälligen Öffentlichkeit. Sein britischer Zeitgenosse D.H. Lawrence wiederum verkündete, dass „der größte Teil der Menschheit niemals lesen und schreiben lernen sollte.“

Eugenik

Zwischen 1884 und 1924 wurde durch eine Reihe langsamer und zögerlicher Reformen das allgemeine Wahlrecht in Großbritannien eingeführt. Aber die Verachtung der Massen innerhalb der Elite nahm eher noch zu. Besonders die Eugenik gewann in genau jener historischen Epoche an Popularität, als das Wahlrecht ausgeweitet wurde. Sowohl rechte als auch linke Intellektuelle träumten davon, die Bevölkerungsentwicklung zu kontrollieren. Beatrice Webb, Mitbegründerin der sozialistischen Fabian Society, glaubte, dass die Eugenik für den Aufbau einer gerechten und erfolgreichen Gesellschaft unabdingbar sei. Der Science-Fiction-Autor H.G. Wells, ebenfalls Mitglied der Fabian Society, drückte diesen Gedanken auf besonders drastische und misanthropische Art aus: „Mit den Scharen von missratenen, schlecht ausgebildeten und minderwertigen Bürgern, die ihr uns aufbürdet, können wir die von uns angestrebte gesellschaftliche Ordnung und den Weltfrieden nicht erreichen.“

„Die Behauptung, dass es dem Volk an Bildung fehlt, lässt außer Acht, dass es in der Politik um mehr als Fakten geht.“

Der Aufstieg der Eugenik war der finsterste Ausdruck der elitären Verachtung der modernen Massengesellschaft. Der Journalist Dennis Sewell hat darauf hingewiesen, dass der „Mental Deficiency Act“ (Schwachsinnsgesetz) von 1913 dazu führte, dass 40.000 britische Männer und Frauen ohne Urteil inhaftiert wurden. Sie wurden dabei in verschiedene Kategorien wie „schwachsinnig“ und „moralisch minderbemittelt“ eingeordnet. „An sich“, schreibt Sewell, „waren diese Maßnahmen auf geistig Behinderte zugeschnitten. Aber die Diagnose für eine geistige Behinderung wurde relativ locker gehandhabt und das Gesetz wurde immer wieder dazu benutzt, chronisch Arme zu unterdrücken.“ Carey merkt an, dass D.H. Lawrence, W.B. Yeats und George Bernard Shaw öffentlich mit dem Gedanken spielten, die Massen auszulöschen oder sie zu sterilisieren. Gaskammern wurden laut Carey zum „imaginären Rückzugsort für die Intellektuellen des frühen 20. Jahrhunderts“.

Im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte trat die Verachtung der Elite immer dann offen zutage, wenn die Massen sich Gehör verschafften. Die Darstellung der Chartisten-Anhänger als von Demagogen Verführte, die eine Gefahr für die Zivilisation seien, war von der selben Verachtung getragen, die neuerdings Brexit-Wählern entgegengebracht wird. Wie im 19. Jahrhundert wird auf die Ignoranz und Leichtgläubigkeit der Öffentlichkeit verwiesen, wird eine besonnene Führung gefordert, die die Leidenschaft der Masse zähmt. Das Argument, dass Demagogen die Unterschicht verführen, ist zurückgekehrt. Es spiegelt eine uralte Abneigung gegen den Wunsch der Öffentlichkeit wider, die Politik mitzugestalten und mehr zu sein als der Spielball der Eliten.

Ablehnung der Demokratie ist letzten Endes Ablehnung der Massen. Ihnen wird die Fähigkeit abgesprochen, die Welt zu gestalten. Uns steht nach dem EU-Referendum keine Massensterilisierung, kein Widerruf des Wahlrechts und kein Pogrom bevor, aber die Demokratieverachtung der Elite wird so bald nicht verschwinden. Dagegen anzukämpfen und zu fordern, dass der demokratische Wille des Volkes respektiert und auf weitere Bereiche des politischen Lebens ausgeweitet wird, sollte die Grundlage einer jeden Vision eines neuen Europas sein.

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