10.07.2014

Keine Freiheit ohne Gerechtigkeit

Essay von Günter Ropohl

Teil 5 der Schwerpunktwoche zur Liberalismuskrise: Freiheit und Gerechtigkeit stehen in einem Spannungsverhältnis. Wer einen liberalen Staat will, muss die damit einhergehenden Gerechtigkeitsprobleme anerkennen und zu lösen versuchen.

Es ist hohe Zeit, wieder einmal liberale Grundsätze stark zu machen. Die einzige Partei in Deutschland, die sich einmal programmatisch zu diesen Grundsätzen bekannt hat, scheint zu verkümmern. Die Bürger aber haben nur noch Sicherheit und Gesundheit im Sinn [1] und die Freiheit bedeutet ihnen offenbar nicht mehr viel. In einer repräsentativen Meinungsumfrage werden Werte, in denen Freiheit zum Ausdruck kommt, erst an neunter und elfter Stelle der Rangskala als wichtig genannt. [2]

Man muss an all jene Freiheiten erinnern, auf die eine humane Gesellschaft nicht verzichten kann, und auf die vielen Fehlentwicklungen aufmerksam machen, in denen die Freiheit eingeschränkt wird. [3] Allerdings sollte man nicht vergessen, dass die berühmten Grundwerte der Französischen Revolution die Trias von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ umfassen, was wohl in moderner Diktion „Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität“ heißen muss. Von „Solidarität“ will ich hier nicht sprechen; soweit sie nicht die schwierige Frage persönlicher Einstellungen betrifft, kann man sie gesellschaftlich in gewissen Grenzen der „Gerechtigkeit“ zuordnen. Hier will ich das Spannungsverhältnis skizzieren, das grundsätzlich zwischen Freiheit und Gerechtigkeit besteht und immer wieder eine Herausforderung für politisches Denken und Handeln bildet. Das will ich zunächst dadurch verdeutlichen, dass ich zwei Idealtypen des Gemeinwesens einander gegenüberstelle, in denen jeweils einer dieser Werte dominiert: den „liberalen Staat“ und den „sozialen Staat“.

Liberaler Staat

Das wichtigste Gut ist die Freiheit der Menschen und ihrer gesellschaftlichen Organisationen. Der Staat hat sich darum aus allen Bürgerangelegenheiten herauszuhalten. Wie ein Nachtwächter hat er lediglich dafür zu sorgen, dass die Bürger vor Gewalt geschützt werden und ungehindert ihre grundrechtlichen Freiheiten wahrnehmen können. Jede staatliche Betätigung, die darüber hinausgeht, birgt die Gefahr in sich, die Bürger zu bevormunden, zu gängeln und in ihrer freien Entfaltung zu behindern. Was immer von privater Seite geleistet werden kann, muss nicht von der staatlichen Bürokratie vereinnahmt und starren Verwaltungsregeln unterworfen werden.

„Die Menschen und die Unternehmen wissen selbst am besten, was gebraucht wird und was hergestellt werden muss. Wo im Einzelfall vorübergehende Mängel auftreten, sorgt das Spiel von Angebot und Nachfrage auf dem freien Markt für baldige Abhilfe.“

Besonders gilt das für jede Art von Wirtschaftstätigkeit. Die Menschen und die Unternehmen wissen selbst am besten, was gebraucht wird und was hergestellt werden muss. Wo im Einzelfall vorübergehende Mängel auftreten, sorgt das Spiel von Angebot und Nachfrage auf dem freien Markt für baldige Abhilfe. Indem die Einzelnen allein ihren eigenen Interessen folgen, schaffen sie gleichzeitig, wie von einer unsichtbaren Hand geleitet, die besten Ergebnisse für den allgemeinen Wohlstand. Indem die Unternehmen im Wettbewerb ihre wirtschaftlichen Erfolge mehren, fördern sie zugleich das allgemeine Wachstum, und davon profitieren letztlich auch die weniger begünstigten Menschen. Ohne Wachstum wäre eine Umverteilung bloß dann möglich, wenn man den Bessergestellten einen Teil ihrer erworbenen Gewinne wegnähme – was den Anreiz zu erfolgreicher Leistung verringern würde. Nur wenn zusätzliche Werte hervorgebracht werden, können daran, durch höhere Arbeitslöhne und notfalls durch staatliche Unterstützung, auch diejenigen beteiligt werden, die nicht unternehmerisch tätig sind. In Form des steigenden Lebensstandards kommen die Leistungen der Wirtschaft allen zugute.

Wo sich aber der Staat in die Wirtschaftstätigkeit einmischt, stiftet er fast immer mehr Schaden als Nutzen. Auch andere Bereiche des Zusammenlebens können erfolgreicher gestaltet werden, wenn man sie dem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte überlässt. So können z.B. Kultur und Bildung, wenn man sie vom Zugriff des Staates befreit, in fruchtbarem Wettbewerb ganz andere Neuerungskräfte entwickeln. Überhaupt soll der liberale Staat seinen Bürgern zutrauen, dass sie ihr Lebensschicksal selbstverantwortlich in die eigene Hand nehmen.

Sozialer Staat

Wer nur die Freiheit im Auge hat, vernachlässigt die naheliegenden Nachteile, die durchsetzungsfähige Personen und mächtige Organisationen den weniger Bemittelten und weniger Einflussreichen zufügen können. Darum muss staatliche Politik vor allem für Gerechtigkeit sorgen, die sich nicht von allein einstellt, wenn jeder größtmögliche Freiheit auslebt. Gerechtigkeit bedeutet nicht nur die Gleichheit aller vor dem Gesetz, sondern besonders die Bedürfnisgerechtigkeit, die allen Bürgern die Grundbedingungen einer angemessenen Lebensführung gewährleistet. Würde man allein die Leistungsgerechtigkeit gelten lassen, wären alle diejenigen benachteiligt, die, aus welchen Gründen auch immer, in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind, zumal eklatante Unterschiede in der Verteilung der Vermögen und Einkommen längst nicht immer mit persönlicher Leistung zu erklären sind.

Bedürfnisgerechtigkeit ist ein Grundsatz des Gemeinwohls, der nur mit politischen Vorkehrungen einzulösen ist. Wer keine rücksichtslose Ellenbogengesellschaft egoistischer Wirtschaftsbürger, sondern eine gerechte Gesellschaft solidarischer Mitmenschen wünscht, muss dem sozialen Staat zahlreiche Gestaltungsaufgaben zubilligen. Dabei ist ein Übermaß an wirtschaftlicher Freiheit einzuschränken, besonders bei großen Banken und Unternehmen. Für privatwirtschaftliche Aktivitäten, soweit diese bedeutenden gesellschaftlichen Einfluss haben, sind verbindliche Regeln zu setzen. Das heißt, die Rahmenbedingungen für Arbeit, Technik und Wirtschaft derart zu gestalten, dass diese wirklich auch dem Gemeinwohl dienen.

Dann ist, als Voraussetzung des selbstbestimmten Lebens, die materielle und kulturelle Grundversorgung für alle zu sichern, zumindest aber für diejenigen, deren eigene Mittel dafür nicht ausreichen. Damit verbinden manche strengen Sozialstaatler die Idee, man müsse Menschen, denen Einsicht und Bereitschaft für einen vernünftigen Umgang mit der Unterstützung fehlen, notfalls zu ihrem eigenen „Glück“ zwingen. Im demokratischen Sozialstaat allerdings ist Förderung durch die Allgemeinheit eigentlich bloß als Hilfe zur Selbsthilfe zu verstehen, nicht als bevormundende Gängelung der Hilfsbedürftigen.

Ferner gibt es Gestaltungsfelder, die von den einzelnen Privatpersonen gar nicht oder doch nur unzureichend betreut werden könnten. Dazu zählen besonders die so genannten öffentlichen Güter, die zwar jeder gerne in Anspruch nimmt, aber aus eigenen Kräften alleine gar nicht hervorbringen und betreiben könnte: Verkehrswege, Nachrichtennetze, Parkanlagen, Sportstätten, Schulen, Universitäten und Kultureinrichtungen. Es gibt eben allgemeine Zwecke, denen jeder zustimmt, für die aber nicht jeder die erforderlichen Mittel freiwillig aufbringt. Darum obliegt die Fürsorge für öffentliche Güter staatlichen Stellen, die bei guter Leitung mindestens ebenso effizient arbeiten können wie private Unternehmen, zumal sie keine zusätzlichen Gewinne abschöpfen müssen.

Mit einem Wort: Der Staat muss sehr viel mehr tun, als bloß den Nachtwächter zu spielen. All diese staatlichen Vorsorge- und Gestaltungsaufgaben aber kosten Geld und sind durch Steuern zu finanzieren, die den Bürgern im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit auferlegt werden. Die vernünftig begründeten Sachnotwendigkeiten sind maßgeblich dafür, welchen Anteil der Staat vom Sozialprodukt erhalten muss, um seine Aufgaben erfüllen zu können.

„Wer dem liberalen Staat das Wort redet, muss auf einige Gerechtigkeitsprobleme aufmerksam gemacht werden, die zu lösen sind, damit daraus ein sozial-liberales Gesellschaftsprogramm wird.“

Die beiden Staatsvorstellungen, die ich hier skizziert habe, sind gedankliche Stilisierungen, die in reiner Form kaum miteinander zu vereinbaren sind. Aber auch die Entscheidung für eine dieser Alternativen scheint mir problematisch, weil beide ihre jeweiligen Schwächen haben, die eine ein Manko an Gerechtigkeit, die andere ein Manko an Freiheit. Also scheinen in beiden Fällen Abstriche am jeweils dominierenden Wert geboten, wenn das Gemeinwesen ein wirklich humanes Antlitz erhalten soll, indem es gleichzeitig so viel Freiheit und soviel Gerechtigkeit wie möglich anstrebt.

Wer dem liberalen Staat das Wort redet, muss auf einige Gerechtigkeitsprobleme aufmerksam gemacht werden, die zu lösen sind, damit daraus ein sozial-liberales Gesellschaftsprogramm wird. Ich kann mich dabei auf bedeutende Denker des sog. Ordoliberalismus berufen, besonders Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, [4] die schon in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus ins Auge gefasst haben. Die Quintessenz dieser „Freiburger Schule der Nationalökonomie“ hat sich in den „Freiburger Thesen“ der FDP aus dem Jahr 1971 niedergeschlagen, die lediglich neu belebt werden müssen: „Freiheit und Glück des Menschen sind für einen Sozialen LiberaIismus nicht einfach nur eine Sache gesetzlich gesicherter Freiheitsrechte und Menschenrechte, sondern gesellschaftlich erfüllter Freiheiten und Rechte. Nicht nur auf Freiheiten und Rechte als bloß formale Garantien des Bürgers gegenüber dem Staat, sondern als soziale Chancen in der alltäglichen Wirklichkeit der Gesellschaft kommt es ihm an.“ [5]

Den „Freiburger Thesen“ liegt die Auffassung zugrunde, dass Freiheit zwei Seiten hat: einmal die Abwesenheit von Zwang und zum anderen ein größtmögliches Spektrum von Wahlmöglichkeiten; man spricht auch von „negativer“ und „positiver“ Freiheit. Wo negative Freiheit verwehrt wird, gibt es natürlich überhaupt keine Wahlmöglichkeit. Doch auch die Abwesenheit von Zwang gewährleistet an sich noch nicht, dass der Einzelne ein Höchstmaß an realen Entfaltungsmöglichkeiten wahrnehmen kann. Einerseits ist jeder in natürlichen und kulturellen Prägungen befangen, die eine vollkommene Gleichheit subjektiver Chancen selbstverständlich ausschließen. Andererseits aber hindern häufig gesellschaftliche Strukturen das Individuum daran, praktisch solche Chancen zu ergreifen, die es theoretisch vielleicht gäbe. Dann ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, auf jene Strukturen derart einzuwirken, dass die individuellen Chancen vergrößert werden – Gerechtigkeit also als Bedingung individueller Freiheit, soziale Politik als Vehikel eines reflektierten Liberalismus.

Strukturelle Hindernisse

Strukturelle Hindernisse für die freie Entfaltung eines jeden – das heben auch die „Freiburger Thesen“ hervor – gibt es vor allem in den konkreten Bedingungen der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Das hat der alte – und nun wieder vorherrschende – Wirtschaftsliberalismus vernachlässigt, der das Prinzip der individuellen Freiheit unbesehen auch allen ökonomischen Aktivitäten zubilligt. Dabei wird aber nicht berücksichtigt, dass wirtschaftliches Handeln inzwischen zu einem erheblichen Teil auf große Organisationen übergegangen ist, die nur mehr „juristische Personen“ sind. Freiheit ist als persönliches Grundrecht des einzelnen Menschen konzipiert worden, und man muss sich fragen, inwieweit dieses individuelle Grundrecht überhaupt von Organisationen in Anspruch genommen werden kann, die nicht selten bereits einen „Staat im Staate“ bilden.

„Schon Adam Smith warnte vor der Gefahr, dass die Betätigungsfreiheit des wirtschaftlichen Handelns durch Eingriffe und Manipulationen übermächtiger Personen und Unternehmen beschnitten werden könnte.“

Ende des 18. Jahrhunderts, als die Menschenrechte erstmals kodifiziert wurden, räumte man auch die Freiheit der unternehmerischen Betätigung den einzelnen Wirtschaftsbürgern ein, die als Bauern, Kleinhändler, Handwerker oder Manufakturbetreiber von den Fesseln feudalistischer und merkantilistischer Staatsherrschaft gelöst werden mussten. Allerdings warnte schon damals Adam Smith vor der Gefahr, dass die Betätigungsfreiheit des wirtschaftlichen Handelns durch Eingriffe und Manipulationen übermächtiger Personen und Unternehmen beschnitten werden könnte. „Von einem bloßen ‚Nachtwächterstaat’ kann mithin bei Smith keine Rede sein, fordert er doch einen Staat, der seine Aufgaben effizient und gerecht erfüllen muss, damit die Marktwirtschaft funktioniert.“ [6] Übrigens folgt daraus auch, dass die heute übliche Gleichsetzung von Marktwirtschaft und Kapitalismus höchst irreführend ist.

Dies gilt umso mehr, als Kapitalgesellschaften inzwischen Dimensionen angenommen haben, die sich ein Adam Smith kaum hätte vorstellen können. Die Bilanzsumme der Deutschen Bank liegt mit mehr als zwei Billionen Euro nur geringfügig unter dem jährlichen Bruttoinlandsprodukt, also der gesamten deutschen Wirtschaftsleistung. Der Umsatz der Daimler AG ist größer als das Sozialprodukt Ungarns. [7] Vergleiche zwischen multinationalen Konzernen und Entwicklungsländern ergeben ein noch drastischeres Bild: Der Umsatz der Microsoft Corporation ist fast 15mal höher als das Sozialprodukt der Republik Haiti. [8] Und dieser Quasi-Monopolist hat mit ein paar Anwendungsprogrammen weltweit einen Marktanteil von über 80 Prozent gewonnen.

Wer unter solchen Umständen ein pauschales Loblied auf die „unternehmerische Freiheit“ singt, hat offenbar nicht verstanden, dass die Konzerne längst zu einer eigenständigen politischen Macht geworden sind, und sie setzen alles daran, die Grundsätze der Marktwirtschaft zu untergraben. Fast täglich hört man davon, wie große Unternehmen ihre Marktmacht missbrauchen, und wovon man hört, das ist wahrscheinlich bloß die Spitze des Eisbergs, doch selbst dagegen kommt der kartellrechtlich notwendige Eingriff der Staaten nicht immer an.

Wachsende Asymmetrie

Im Namen der Wirtschaftsfreiheit schreitet die Konzentration der Unternehmen fort. Damit geht eine wachsende Asymmetrie zwischen Produzenten und Konsumenten einher. Die Freiheit der Verbraucher beschränkt sich darauf, zwischen den verfügbaren Angeboten zu wählen – selbst wenn diese so unsinnig sind wie die sich verbreitenden Kraftstoff fressenden Pseudo-Geländeautos („SUVs“), die in Wirklichkeit die wenigsten tatsächlich brauchen. Teilweise werden also Produkte angeboten, deren Gebrauchsnutzen trotz hoher technischer Qualität durchaus fraglich ist, und teilweise hat, wie bei zahlreichen Nahrungsmitteln, die Qualität aufgrund der Industrialisierung eher abgenommen. Man braucht nicht erst die sich häufenden Lebensmittelskandale zu erwähnen; es reicht der Hinweis, dass man kaum noch Brötchen in der Güte erhalten kann, die früher beim handwerklich arbeitenden Bäcker selbstverständlich war. Die Auswirkungen des real existierenden Marktes auf die Produktqualität sind also zumindest ambivalent. Ob die Konsumenten tatsächlich wissen, was sie eigentlich benötigen würden, und wie sie ihre eigenen Bedürfnisse gegenüber den Produzenten artikulieren könnten, darüber pflegen die Verteidiger der Wirtschaftsfreiheit meist zu schweigen.

„Selbst die alltäglichen Bedarfsgüter sind für die meisten Menschen nicht mehr in fußläufiger Entfernung zu beschaffen. In vielen Orten sind die Kleinhändler ausgestorben.“

Kritische Verbraucher können sich zahlreiche Produkte vorstellen, die sie trotz der „Überflussgesellschaft“ nirgendwo kaufen können. Selbst die alltäglichen Bedarfsgüter sind für die meisten Menschen nicht mehr in fußläufiger Entfernung zu beschaffen. In vielen Orten sind die Kleinhändler ausgestorben, und ältere Menschen ohne Auto wissen kaum noch, wie sie Brot und Gemüse kaufen sollen. Dank der Wirtschaftsfreiheit großer Handelsketten ist die Konsumfreiheit bestimmter Käufergruppen beträchtlich gesunken, und vorbei ist es mit der Gewerbefreiheit selbständiger Bäcker, Metzger und Lebensmittelhändler, die gegenüber den Großen kaum noch eine Chance haben. Gesunde und bemittelte Menschen in der ersten Hälfte ihres Lebens haben genügend Möglichkeiten, ihren Bedarf angemessen und preisgünstig zu decken, doch für einen weniger mobilen Teil der Bevölkerung sind diese Chancen tatsächlich geringer geworden. Wenn Gerechtigkeit bedeutet, dass alle die gleichen Chancen für die Befriedigung ihrer elementaren Lebensbedürfnisse haben sollen, so steht hier Wirtschaftsfreiheit in deutlichem Gegensatz zur Gerechtigkeit.

Aus wirtschaftsliberalistischer Sicht wird beklagt, staatliche Regelungen behinderten die Innovationskraft der Unternehmen. Demgegenüber haben manche Beobachter den Eindruck, dass es bei gewissen technischen Entwicklungen, z.B. in der Informationstechnik, keinen Mangel, sondern eher einen Überfluss an Innovationen gibt, mit dem viele Konsumenten sich hoffnungslos überfordert fühlen. [9] Auch werden Scheininnovationen angeboten, die kaum einen anderen Sinn haben, als bewährten Produkten das Stigma vorgeblicher Veraltung anzuheften: die bekannte Strategie der „psychologischen Obsoleszenz“. Solche Marktpraktiken dienen nicht der optimalen Bedarfsdeckung, sondern der maximalen Kapitalverwertung – ein Grund mehr, Marktwirtschaft und Kapitalismus auseinander zu halten.

Abhängig Beschäftigte

Professoren, Journalisten und Politiker – Menschen mit mehr oder minder freizügigen Arbeitsbedingungen – machen sich, wenn sie das hohe Lied der Freiheit singen, meist keine Vorstellung davon, dass die große Mehrheit der „abhängig Beschäftigten“ bei ihrer lebensnotwendigen Erwerbsarbeit die Freiheit nur vom Hörensagen kennt. Der Fachausdruck der amtlichen Statistik besagt ganz ungeschminkt, dass rund 40 Millionen Menschen in unserem Land während ihrer Berufsarbeit „abhängig“, also nicht frei sind. Wenn sie, wie frei auch immer, einen Arbeitsvertrag abschließen, unterwerfen sie sich damit dem Weisungsrecht des Unternehmers. Das kann, wie zahlreiche Reportagen aus der Arbeitswelt belegen, höchst inhumane Formen annehmen, ganz zu schweigen davon, dass menschliches Arbeitsvermögen, das doch eigentlich ein Vehikel der Selbstentfaltung sein sollte, grundsätzlich der Fremdbestimmung, also der Herrschaft der einen Menschen über die anderen Menschen, überantwortet wird.

Wer das mit dem blauäugigen Hinweis quittiert, anders als der Sklave könnte der „abhängig Beschäftigte“ sich dem Arbeitszwang doch jederzeit durch Kündigung entziehen, ignoriert die konkreten Lebensschwierigkeiten eines solchen Schrittes, der dann oft genug auch nur vom Regen in die Traufe, wenn nicht gar in die Arbeitslosigkeit führt. Ich will hier nicht der anarchistischen Utopie einer „freien Assoziation selbstbestimmter Produzenten“ das Wort reden, obwohl manche genossenschaftlichen Betriebe – deren nicht gerade seltenes Vorkommen kapitalistisch eingestimmten Wirtschaftsliberalen meist gar nicht auffällt – von dieser Idee gar nicht so weit entfernt sind. Wer aber die Freiheit als höchstes Gut feiert, dürfte nicht unterschlagen, dass die Freiheit der Unternehmen und die Unfreiheit der „abhängig Beschäftigten“ die beiden Seiten derselben Münze sind, und er müsste darüber nachdenken, wie diese Unfreiheit durch neue Formen der Mitbestimmung zu mildern wäre.

„Wer Arbeitskräften zumutet, ein volles Arbeitspensum abzuleisten und dafür so schäbig entlohnt zu werden, dass sie damit nicht einmal ihr Existenzminimum erreichen, der hat ein gestörtes Verständnis von menschenwürdigen Arbeitsverhältnissen.“

Überhaupt sind der „Arbeitsmarkt“ – und auch der „Wohnungsmarkt“, auf den ich hier nicht eingehen kann – gesellschaftliche Bereiche, die der soziale Staat kaum dem „freien Spiel der Marktkräfte“ überlassen kann, ohne elementare Grundsätze der Gerechtigkeit zu missachten. Ein aktuelles Beispiel ist der Streit um einen gesetzlichen Mindestlohn. Wohl mag es der eine oder andere vorübergehend in Kauf nehmen, dass ein miserabel bezahlter Arbeitsplatz besser ist als gar keiner, zumal sich das in erwünschter Form auf die Arbeitslosenstatistik auswirkt. Doch wer Arbeitskräften zumutet, ein volles Arbeitspensum abzuleisten und dafür so schäbig entlohnt zu werden, dass sie damit nicht einmal ihr Existenzminimum erreichen, der hat ein gestörtes Verständnis von menschenwürdigen Arbeitsverhältnissen. Die Ausrede übrigens, die Differenz könne dann doch von der staatlichen Sozialhilfe getragen werden, verkennt, dass auf diese Weise unternehmerisches Lohndumping öffentlich subventioniert werden müsste; wie vertragen sich solche Subventionsvorstellungen mit dem wirtschaftsliberalistischen Credo?

Das Recht auf Arbeit und das Recht auf Wohnung folgen aus grundlegenden Lebensbedürfnissen aller Menschen. Eine Gesellschaft, die diese Rechte der „Wirtschaftsfreiheit“ eigensüchtiger Profiteure überantwortet, hat den Sinn für die Würde des Menschen verloren.

Fehler liberalen Denkens

Der Liberalismus ist von einem höchst optimistischen Menschenbild geprägt und konzipiert die Bürger unterschiedslos als vernünftige und souveräne Individuen. Da schlägt ein Fehler durch, der im liberalen Denken immer wieder vorkommt: die Verwechslung von Sollen und Sein. Tatsächlich erweist sich die Vorstellung vom Gemeinwesen mündiger und eigenverantwortlicher Bürger als normative Fiktion, von der die gesellschaftliche Wirklichkeit weit entfernt ist. Natürlich darf diese unerfreuliche Einsicht nicht von paternalistischen Politikern und Bürokraten als Alibi missbraucht werden, um die Menschen zum angeblich Besseren zu zwingen. [10]

Die teilweise kontrafaktische Mündigkeitsvermutung muss in einer Demokratie gleichwohl als regulatives Prinzip ernstgenommen werden. Doch zugleich muss jeder, der Politik bedenken oder gestalten will, sich darüber im Klaren sein, dass die staatliche Ordnung, ohne diese Mündigkeitsvermutung aufzugeben, auch zu berücksichtigen hat, dass viele ihr nicht genügen. Und eine gerechte Politik hat sich auch darum zu kümmern, wie Einsichts- und Urteilsfähigkeit der Menschen zu steigern sind. Das muss nicht gerade zu einer förmlichen allgemeinen Bildungsverpflichtung ausarten, sollte aber doch zu der Frage anregen, wie man der verbreiteten Volksverdummung begegnen kann, wie sie von Teilen der Politik und der Medien betrieben wird. [11] Sozialliberales Denken muss sich der Quadratur des Kreises stellen: mit unvollkommenen Menschen ein möglichst vollkommenes Gemeinwesen zu schaffen, das gleichermaßen Freiheit und Gerechtigkeit kultiviert.


 

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