18.10.2016

Hassrede ist freie Rede

Essay von Kolja Zydatiss

Mit Netzsperren und öffentlichkeitswirksamen Kampagnen wird gegen sogenannte „Hate Speech“vorgegangen. Besser wäre es, rassistischen und anderen Vorurteilen sachliche Argumente entgegenzusetzen.

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Hate Speech. Im Englischen wird der Begriff benutzt, um herabsetzende sprachliche Äußerungen zu kennzeichnen, die vermeintlich Ausdruck von Hass sind. Misstrauen gegenüber dem Begriff ist angebracht. Wie andere politisch korrekte Modephrasen aus dem angloamerikanischen Raum, etwa „check your privilege“ oder „mansplaining“, ist er geeignet, Andersdenkende mundtot zu machen, ohne sich mit deren Argumenten auseinandersetzen zu müssen.

Dieser Ansatz wird jetzt auch nach Deutschland importiert. Vor einigen Monaten schickte mir etwa ein Freund den Link zu einem YouTube-Video, in dem sich der Nutzer Atheism-is-Unstoppable auf derbe und ziemlich infantile Art über moderate Muslime äußert. Sie sind für ihn nützliche Idioten, die einer inhärent totalitären Ideologie gesellschaftliche Akzeptanz verschaffen. Einige Tage später wurde das Video durch YouTube entfernt, weil es gegen die „Richtlinie zum Verbot von Hassrede“ des Konzerns verstößt. Es ist heute nur verfügbar, weil ein anderer Nutzer es erneut hochgeladen hat.

Pathologisierung

Hier offenbart sich bereits ein grundlegendes Problem des Hate Speech-Begriffs. Hass ist eine Emotion. Wie der Soziologe Alexander Ulfig angemerkt hat, müssten wir Menschen wie dem Schöpfer des gesperrten Videos in die Seele schauen können, um festzustellen, ob ihre Äußerungen von Hass motiviert sind. Da dies nicht möglich ist, lässt sich praktisch jede leidenschaftlich vorgetragene, kontroverse Ansicht als Hassrede abstempeln. Die so Gebrandmarkten können den Vorwurf nicht widerlegen.

„Praktisch jede leidenschaftlich vorgetragene, kontroverse Ansicht lässt sich als Hassrede abstempeln.“

Die Kennzeichnung von Äußerungen als Hassredekommt einer Pathologisierung desjenigen gleich, der sie geäußert hat. Mit diesen Produkten krankhafter Geister, die ihre Gefühle nicht unter Kontrolle haben, muss man sich erst gar nicht inhaltlich auseinandersetzen. Sie lassen sie sich leicht zensieren. Es ist ja keine legitime Meinung, lediglich irrationaler Hass, der da aus dem Netz entfernt wird.

Privatzensur

Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Meinungskontrolle privatisiert und jeglicher Rechenschaftspflicht entzogen wird. In meinen Augen sind viele der rechtlichen Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Deutschland (etwa beim Thema Verherrlichung der Nazi-Herrschaft) überflüssig und kontraproduktiv, aber wenigstens gibt es in diesen Fällen relativ klare Kriterien, Präzedenzfälle und einen Rechtsweg, über den sich die Beschuldigten gegen den Vorwurf wehren können.

Nicht so bei der neuen Netzzensur. Nationale und EU-Gesetze geben zwar den allgemeinen rechtlichen Rahmen vor, aber was genau entfernt wird, bestimmen interne Regeln von Facebook und Co. Die Netzkonzerne stehen dabei unter erheblichem politischen Druck. Seit dem Herbst 2015 traf sich der Bundesjustizminister Heiko Maas vier Mal mit Vertretern von Google, Facebook und Twitter. Immer wieder wurden diese bedrängt, die Anzahl der gelöschten Kommentare zu erhöhen. Rechtsstaatlichkeit sieht anders aus.

Kritiker zum Schweigen bringen

Hier einige aktuelle Beispiele von Meinungsäußerungen, die der Sperrwut zum Opfer gefallen sind: Der Menschenrechtsaktivist und Religionskritiker Ali Utlu wurde für 30 Tage von Facebook verbannt, weil er ein Foto teilte, dass den IS mit dem Ku-Klux-Klan gleichsetzte. Der homosexuelle Publizist David Berger wurde von Facebook gesperrt, weil er einen Artikel postete, in dem er „Linksgrünen“ einen „Schmusekurs“ gegenüber dem Islam vorwirft, der die Schwulen in Deutschland gefährde. Auch die Bloggerin Anabel Schunke wurde gesperrt. Ihr Vergehen? Sie teilte den Post einer türkischstämmigen Mitbürgerin, die den Amoklauf von München guthieß, und kommentierte ihn mit der wenig klugen Bemerkung „top integriert würde ich sagen...“. Der Wirkungsgrad von Menschen, die vor allem über die sozialen Netzwerke publizistisch aktiv sind, wird durch solche Sperrungen erheblich eingeschränkt. Es ist nicht übertrieben, hier von politischer Zensur zu sprechen.

„Es ist nicht übertrieben, von politischer Zensur zu sprechen.“

Der Fall Schunke zeigt auch eindrücklich, wie leicht ein Vorgehen gegen vermeintliche Hasspostings als Vorwand dienen kann, Kritiker der Regierungspolitik mundtot zu machen. Wohl aus Angst, „rechtem“ Gedankengut Vorschub zu leisten, geht Bundeskanzlerin Angela Merkel schon lange offenen Debatten über ihre Flüchtlingsaufnahmepolitik (die ich im Wesentlichen gutheiße) aus dem Weg. Heiko Maas‘ Feldzug gegen Hate Speech kann durchaus als zensorische Weiterführung dieser Linie bewertet werden.

Staatlich vorgegebene Meinungen

Sperrungen sind nicht das einzige Mittel, mit dem der Staat gegen Hassäußerungen vorgeht. Man sehe sich etwa die No Hate Speech Movement an. Zu der Kampagne des Europarates gehören nationale Initiativen in 42 Ländern, darunter die als Bastionen der Meinungsfreiheit bekannten Staaten Russland, Weißrussland, Türkei und Aserbaidschan. Auffällig ist die Verschmelzung zivilgesellschaftlicher und staatlicher Akteure. Auf nohatespeechmovement.org werden die verantwortlichen Organisationen in den teilnehmenden Ländern aufgelistet. Es sind oft private Initiativen (etwa Menschenrechtsvereine). Allerdings fällt auf, dass die nationalen Ansprechpartner nicht selten eine für staatliche Behörden vorgesehene .gov-E-Mailaddresse haben.

Der deutsche Ableger findet sich unter no-hate-speech.de. Träger ist ein breites Bündnis privater und staatlicher Organisationen, das von den Neuen Deutschen Medienmachern koordiniert wird, einem Netzwerk etablierter Journalisten, das sich als „Ansprechpartner für interkulturellen Journalismus“ versteht. Das Bundesministerium des Innern und das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beteiligen sich an der Kampagne. Von letzterem Ministerium wird sie auch finanziell gefördert.

„Die Meme stellen einen Versuch des Staates dar, bestimmte Meinungen zu disqualifizieren.“

Im Vordergrund steht hier nicht die offene Zensur, sondern die Gegenrede (sogenannte „Counter Speech“). Dem Besucher werden sogenannte Meme zur Verfügung gestellt, also meist humoristisch intendierte Bild-Text Kombinationen, die Nutzer posten sollen, wenn ihnen „Hass und Hetze“ im Netz begegnen. Die Meme sind thematisch sortiert. Man kann also beispielsweise gezielt nach einem Mem gegen Sexismus suchen.

Manche der Meme sind tatsächlich witzig. Die Mehrzahl ist recht banal, einige bedenklich. Im Rahmen dieser Kampagne stellen sie einen Versuch des Staates dar, bestimmte Meinungen zu disqualifizieren. Nehmen wir etwa dieses Mem, das aus der Kategorie „antimuslimischer Rassismus“ stammt:

Abb. 1: Batman-Mem. Quelle: no-hatespeech.de

Der Ansicht, dass Kopftücher ein Zeichen von Unterdrückung sind, mag man zustimmen oder auch nicht. In jedem Fall stellt sie eine in Deutschland vollkommen legale Meinungsäußerung dar. Steht es einer staatlich geförderten Kampagne zu, ihre Vertreter (darunter Feministinnen und – auch linke – Religionskritiker) pauschal als „rassistisch“ abzustempeln? Wohl kaum.

Oder nehmen wir dieses Mem aus der Kategorie „Sexismus“:

Abb. 2: Männerrechte-Mem. Quelle: no-hatespeech.de

Das Mem macht sich über die Männerrechtsbewegung lustig. Nun sind Männerrechtler ein kontrovers diskutiertes Phänomen. In der Szene finden sich neben Menschen mit nachvollziehbaren Anliegen (etwa Besuchsrechte für geschiedene Väter) auch eine Menge frauenfeindlicher Spinner, die die feministische Weltverschwörung für jedes missglückte Date verantwortlich machen. Aber ist es in Ordnung, dass eine halbstaatliche Internetinitiative die Aktivisten dieser Bewegung pauschal zu Sexisten erklärt? Sie lächerlich macht, wohl mit dem Ziel, dass sich niemand inhaltlich mit ihren Positionen auseinandersetzt?

Noch skurriler wird es bei diesem Bild aus der Kategorie „Hate Speech gegen LGBTI“:

Abb. 3: Hatespeech-Mem: Quelle: no-hatespeech.de

Hier wird die Ansicht, dass es zwei Geschlechter gibt (was der Lebenserfahrung und Sichtweise der meisten Bürger entsprechen dürfte), als Hass identifiziert. Die Kampagne nimmt hier wahrhaftig orwellsche Züge an. 2+2=5!

Eine neue Wertebasis

Für den Blogger Lucas Schoppe dient die No Hate Speech-Kampagne weniger dem Vorgehen gegen Hassäußerungen als der Einteilung der Gesellschaft in „gute“ (beispielsweise Frauen und Transmenschen) und „schlechte“ Gruppen (Männerrechtler, Islamkritiker). Darüber hinaus tragen solche Kampagnen – so meine Vermutung – auch dazu bei, ein neues Wertekoordinatensystem zu etablieren, das den Menschen in unserer als unübersichtlich empfundenen Zeit moralische Orientierung bieten soll.

Der britische Soziologe Frank Furedi hat sich grundlegend mit der Entstehung von Werten und Normen in modernen Gesellschaften auseinandergesetzt. In ideologisch geschlossenen Gesellschaften wie dem europäischen Mittelalter dienten Zensurmaßnahmen noch der Durchsetzung des etablierten Wertekanons. Wer etwa an der Unfehlbarkeit des Papstes zweifelte, konnte von der Inquisition gefoltert werden, bis er seine Ansichten widerrief. Die heutige postideologische und größtenteils postreligiöse westliche Gesellschaft hingegen ist von moralischer Orientierungslosigkeit geprägt. In diesem Kontext bekommt die Verfolgung Andersdenkender laut Furedi eine neue Dimension. Sie dient vor allem dazu, eine neue Orthodoxie – also ein System allgemein anerkannter Überzeugungen – von Grund auf zu erschaffen. Im Gegensatz zu den älteren Formen der Zensur geht es heute darum, überhaupt erst einmal festzulegen, was moralisch richtig und was falsch ist.

Social Justice Warriors

Die No Hate Speech-Bewegung ist in diesem Kontext zu verstehen. Eine in ihren Moralvorstellungen verunsicherte politische Elite greift bei ihrem Versuch, eine neue Wertebasis für die Gesellschaft zu etablieren, auf die Vorstellungen einer Szene zurück, die man im angloamerikanischem Slang „Social Justice Warriors“ (zu Deutsch etwa „Kämpfer für die soziale Gerechtigkeit“) nennt. Gemeint sind von Kultur- und Identitätsfragen besessene Aktivisten, die sich vor allem für die Rechte ihrer Meinung nach besonders diskriminierter Minderheitengruppen einsetzen, für die sie mit Hilfe staatlicher Maßnahmen unbedingte Gleichstellung, wenn nicht gar Bevorzugung, fordern. Obwohl sie in ihrer Rhetorik unaufhörlich die „Vielfalt“ dieser Gruppen bejubeln, lehnen sie zumeist die Meinungsvielfalt von Individuen ab. In ihrem geschichtsblinden Weltbild hat das freie Wort nur wenig emanzipatorischen Wert, sondern dient vor allem der Unterdrückung Schwächerer. Ihre Selbstidentifikation als „Linke“ lässt leicht vergessen, dass sie traditionelle aufklärerische und sozialistische Denktraditionen, etwa bei der Religionskritik, über Bord geworfen haben.

„Gleichheit zwischen den Geschlechtern und Menschen unterschiedlicher Herkunft muss in offenen gesellschaftlichen Debatten durchgesetzt werden.“

Wie Lucas Schoppe anmerkt, wird die No Hate Speech-Initiative oft überhaupt erst verständlich, wenn man die Positionen dieser winzigen Szene kennt. Da ist zum einen das Vokabular. So nutzt die internationale Kampagnenseite des Europarats den englischen Begriff „Allies“ (zu Deutsch: „Verbündete“). Damit bezeichnen Social-Justice-Aktivisten Menschen, die ein Anliegen einer Identitätsgruppe unterstützen, die nicht ihre eigene ist (etwa eine Weiße, die sich einer Demonstration der antirassistischen Protestbewegung Black Lives Matter anschließt). Diese Begriffsnutzung dürfte dem Durchschnittseuropäer kaum geläufig sein. Die deutsche Website spricht wie gesagt von „LGBTI“. Früher nur „LGBT“, scheint die Abkürzung nun um einen weiteren Buchstaben gewachsen zu sein. Wofür steht das „I“? Selbst ein guter Linksliberaler wie ich braucht Google, um das zu beantworten (es steht für „Intersex“‘). Auffällig ist auch die Themenwahl. Mit Gender und Männerrechtlern tauchen Steckenpferde der Szene auf, die außerhalb weit weniger Relevanz haben.

Lassen wir uns nicht von der infantilisierenden Aufmachung (Herzchen) und verniedlichenden Formulierungen wie „Bundestrollamt für gegen digitalen Hass“ täuschen. Die "No Hate Speech"-Bewegung ist ein illiberaler Versuch, das Spektrum akzeptabler Meinungen durch die Dämonisierung abweichender Ansichten zu begrenzen. Dem sollten wir uns entgegenstellen. Gleichheit zwischen den Geschlechtern und Menschen unterschiedlicher Herkunft lässt sich nicht durch autoritäre Zensurmaßnahmen von oben erzwingen, sondern muss in offenen gesellschaftlichen Debatten durchgesetzt werden.

Ebenso sollten wir uns der politisch erzwungenen „Privatzensur“ der Social-Media-Unternehmen widersetzen, für die im Gegensatz zur herkömmlichen Zensur noch nicht einmal transparente Kriterien bestehen. Am Wichtigsten ist es aber, den Hate-Speech-Begriff grundsätzlich in Frage zu stellen. Hass ist keine Eigenschaft der Sprache. Wer wirklich Rassisten, Sexisten und anderen Menschenfeinden entgegentreten will, sollte nicht über deren Gefühle spekulieren, sondern ihre Argumente sachlich widerlegen.

jetzt nicht

Novo ist kostenlos. Unsere Arbeit kostet jedoch nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Unterstützen Sie uns jetzt dauerhaft als Förderer oder mit einer Spende!