19.10.2020

Bürgerrechte unter Vorbehalt sind keine Bürgerrechte (1/2)

Von Kai Rogusch

Corona leitet eine „neue Normalität“ ein, in der Freiheitsrechte nicht länger garantiert sind. Aus dem aktuellen Novo-Buch „Bürger oder Untertan? Über den Abbau unserer Freiheitsrechte".

Seit langer Zeit werden Bürgerrechte durch einen immer mächtigeren Staat bedroht. Bislang handelte es sich jedoch um eine eher schleichende Erosion unserer Freiheiten. Angesprochen auf dieses Thema, sahen die meisten Leute bislang noch keinen Orwellschen und Oppositionsgruppen niederknüppelnden Überwachungs- und Polizeistaat heraufziehen, sondern eher einen unter der Regie blasser Politiker geführten Staat, der grundlegende Rechtsnormen nicht mehr hinreichend durchsetzt. Auf der anderen Seite beklagt man bereits seit Längerem den Trend einer zunehmend kleinteiligen Durchregulierung des gesellschaftlichen Lebens.

Mit der Corona-Krise jedoch haben die freiheitsfeindlichen Entwicklungen der letzten Jahre eine neue Qualität erreicht. Jetzt haben wir es mit einem für alle Bürger spürbaren, umfassenden und in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beispiellosen Einschnitt in die Bürgerrechte zu tun. Die politischen Reaktionen auf Corona brachten auf sämtlichen Ebenen ein gefährliches Potenzial zur Entfaltung, das in den bisherigen Entwicklungen der letzten Jahre bereits angelegt ist. Die Sphäre der persönlichen, darunter intimen Lebensführung wird durch Kontaktverbote, Abstandsgebote, Maskenpflicht und andere Verfügungen beschnitten. Das Prinzip der demokratischen Entscheidungsfindung wird durch die Delegation von politischer Verantwortung an handverlesene Virologen untergraben, die epidemiologische Horrorszenarien ausbreiten. Ohne jegliche Opposition wurde vom Bundestag ein Infektionsschutzgesetz verabschiedet, das einen Ausnahmezustand ermöglicht und dem Bundesgesundheitsminister auf wichtigen Feldern der Politik gesetzgeberische Kompetenzen gibt.

Die Corona-Politik war anfänglich nahezu global synchronisiert. Sie potenziert politische Entwicklungen, die seit Jahren die persönliche Integrität des Bürgers in seiner alltäglichen Lebensführung in Abrede stellen und damit die Idee der Mündigkeit selbstverantwortlicher Staatsbürger untergraben. Zudem treibt die Corona-Politik auf dem Feld der politischen Entscheidungsgewalt einen Demokratieabbau weiter voran, der in Form von Expertenräten, EU-Gremien und anderen Instanzen das Volk – also den demokratischen Souverän – entmachtet. Auffällig ist auch, wie die Corona-Politik das durch Bundeskanzlerin Angela Merkel personifizierte Mantra der „Alternativlosigkeit“ radikalisiert. Im Zuge dieser Entwicklung entsteht ein trostloses, technokratisches „New Normal“, in dem Wissenschaft und Technik zum Zwecke der Freiheitsberaubung, der Kontrolle und Steuerung der Bürger instrumentalisiert werden.

„Die Corona-Politik potenziert politische Entwicklungen, die seit Jahren die persönliche Integrität des Bürgers in seiner alltäglichen Lebensführung in Abrede stellen und damit die Idee der Mündigkeit selbstverantwortlicher Staatsbürger untergraben.“

Wie in diesem Buch noch eingehender ausgeführt wird, sind die politischen Maßnahmen gegen Corona mitnichten eine sachgerechte Antwort auf eine realistisch beurteilte epidemiologische Gefahrenlage. Die Maßnahmen entspringen vielmehr einem Denken, das bürgerliche Freiheiten einem ausgeuferten Prinzip der Risikovorsorge opfert. Dieses Prinzip entspringt einer panischen Angst vor Unsicherheit, die vor allem unsere politischen Entscheidungsträger heimsucht, als Vorsteher einer Gesellschaft, die keine positiven Ziele und keine Orientierung zu haben scheint. Vor diesem Hintergrund neigen unsere politischen Eliten dazu, ihren seit Jahren anhaltenden Autoritätsverfall infolge mangelnder anregender Zukunftsperspektiven, Wählerflucht und des aufkeimenden „Populismus“ im Zuge der Corona-Krise zumindest vorübergehend und in Teilen zu kompensieren. Sie erliegen ihrem (möglicherweise unbewussten) Drang, die Erwartungen normaler Bürger im Hinblick auf Forderungen nach wirtschaftlicher Prosperität, persönlicher Freiheit und Mobilität sowie demokratischer Teilhabe abzusenken.

Bürgerrechte beruhen auf dem Grundvertrauen, dass Menschen, die sich frei und unbeobachtet entfalten, ein für unsere Gesellschaft nutzbares kreatives Potenzial bergen. Diese optimistische Vorstellung wird jedoch seit Jahren Schritt für Schritt abgewickelt. Stattdessen breiten sich Vorstellungen aus, die in Bürgern und Mitmenschen ein Sicherheitsrisiko sehen. Der „präventive Sicherheitsstaat“, den Bürgerrechtskreise seit Jahren beklagen, kommt im Zuge der Corona-Krise zu neuen Durchbrüchen. Indem er das Prinzip der „sozialen Distanz“ in der Gesellschaft verankert, treibt er eine gefährliche Entfremdung unter den Bürgern innerhalb einer zunehmend kontrollierten Gesellschaft voran.

Was waren eigentlich noch mal Bürgerrechte?

Bürgerrechte waren einmal institutionell fixierte Garantien bürgerlicher Freiheit. Diese Freiheitsgarantien sind nach der Verhängung der politischen Maßnahmen gegen Corona, die einen permanenten Notstand verankern, nicht mehr gegeben. Politische Diskussionen über „Lockerungen“ ändern daran nichts. Das liegt daran, dass sich mittlerweile ein politisches Klima der Angst etabliert hat, in dem die Wahrscheinlichkeit nachfolgender Infektionswellen mit möglicherweise mutierenden Virustypen fest in den Köpfen verankert ist. Nun müssen sich nicht mehr die Befürworter von Freiheitseinschränkungen gegenüber der Öffentlichkeit rechtfertigen. Vielmehr stehen diejenigen Leute als unverantwortlich da, die ein Ende der Corona-Maßnahmen fordern. Zwar werden beispielsweise immer wieder Demonstrationsverbote gerichtlich aufgehoben. Hin und wieder werden gar politische Demonstrationen, welche die verhängten Auflagen zu Mindestabstand und erlaubter Teilnehmerzahl nicht einhalten, „geduldet“. Und doch steht nun alles unter einem ständigen Vorbehalt, der die Ausübung von bürgerlichen Freiheiten der Willkür und dem Ermessen der staatlichen Autoritäten ausliefert.

Die Corona-Maßnahmen leiteten auf einen Schlag einen Zustand ein, in dem viele Rechte, die man bislang als indisponibel und selbstverständlich betrachtete, nunmehr dem Vorbehalt der staatlichen Autoritäten unterliegen. Die politischen Entscheidungsträger entzogen mit tatsächlich einschneidenden Maßnahmen zahllosen Bürgern ihre Existenzgrundlage und Unabhängigkeit, um ein höchst fragwürdiges, hypothetisches Worst-Case-Szenario zu verhindern 1. Auf diese Weise trat in den Augen der politischen Entscheidungsträger eine passive und in ihren sozialen Interaktionen einzufrierende Verwaltungsmasse an die Stelle eines Volkes mündiger Staatsbürger innerhalb einer souveränen Nation. Das vollzog sich ohne nennenswerte öffentliche Debatte auf Geheiß eines durch die supranationale Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausgerufenen globalen Ausnahmezustands.

„Nun steht alles unter einem ständigen Vorbehalt, der die Ausübung von bürgerlichen Freiheiten der Willkür und dem Ermessen der staatlichen Autoritäten ausliefert.“

Wie der renommierte Medizinrechtler Prof. Peter Gaidzik betont, ist mit zunehmender Tendenz zu beobachten, dass bloße Plausibilitäten von der Politik und den Leitmedien als bewiesene wissenschaftliche Wahrheiten dargestellt werden. Trotz intensiver monatelanger wissenschaftlicher Beschäftigung mit Covid-19 beurteilt er die Evidenz zu diesem Virus als „erschreckend gering“. Schon in der Zeit vor Verhängung des Lockdowns, der zahllose Menschen zur ökonomischen, kulturellen und politischen Passivität verurteilte, seien die Infektionszahlen „erkennbar rückläufig“ gewesen. Die täglich neuen Einschränkungen der Bürgerrechte sind dann mit immer neuen, einander abwechselnden Rechtfertigungen begründet worden. Obskur sei gewesen, dass man sich zunächst auf die Verdoppelungsrate berief, dann zum Reproduktionsfaktor wechselte, um dann dessen Berechnungsgrundlagen mehrfach zu ändern. 2

Auf der Grundlage diskussionsbedürftiger Rechtfertigungen, die sich am Grundsatz „Sicher ist sicher“ orientierten, wurde ein tatsächlicher volkswirtschaftlicher und verfassungsrechtlicher Schaden verursacht. Zahllose Bürger waren infolge der physischen Kontaktverbote plötzlich nicht mehr oder nur eingeschränkt in der Lage, aktiv am politischen, staatlich-bürokratischen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben teilzunehmen. Dadurch vermochten es diese Bürger nicht mehr, ebenjene Freiheitsrechte, die abstrakt in der Verfassung verankert sind, konkret zum Leben zu erwecken. So kommt in der Corona-Politik ein historisch einmaliges Streben nach einer angeblich 3 an der Gesundheit der Bürger ausgerichteten Risikoprävention zum Tragen.

Die historische Einmaligkeit erschließt sich aus einem Vergleich mit dem politischen und medialen Umgang mit nicht minder schweren Epidemien in den Jahren 1957 und 1968. Als damals zuerst die Asiatische Grippe und dann die Hongkong-Grippe weltweit millionenfache Todesfälle verursachten, dachten die politischen Entscheidungsträger nicht im Entferntesten daran, das gesellschaftliche Leben lahmzulegen. 4 Die Medien berichteten damals allenfalls unter „ferner liefen“ über die Grippeepidemien. Nie wäre man in den Jahren 1957 oder 1968 auf die Idee gekommen, die Bürgerrechte flächendeckend außer Kraft zu setzen.

Im Vergleich zur damaligen Zeit leben wir nun heute in einer Gesellschaft, in der das Damoklesschwert eines jederzeit wieder verhängbaren Lockdowns und anderer bislang unvorstellbarer Einschränkungen über unseren Bürgerrechten schwebt. In dieser – möglicherweise sehr langen – Zeit droht eine Erkenntnis in Vergessenheit zu geraten, die für ein freiheitliches Gemeinwesen elementar ist: Es ist der sich mit anderen Menschen frei und mitunter spontan assoziierende Bürger, der durch sein Agieren in Wirtschaft, Kultur, Politik und Staat die Bürgerrechte zum Leben erweckt. Dieser freie, aktive und Gemeinschaft suchende Bürger bildet die demokratische Quelle verbindlicher Rechtsnormen. Und diese Rechtsnormen können durch dafür qualifizierte, verantwortungsbewusste Bürger durch ihre Teilnahme an Verwaltung und Justiz in die konkrete Lebenswirklichkeit übersetzt werden.

„Als damals zuerst die Asiatische Grippe und dann die Hongkong-Grippe weltweit millionenfache Todesfälle verursachten, dachten die politischen Entscheidungsträger nicht im Entferntesten daran, das gesellschaftliche Leben lahmzulegen.“

Diese Voraussetzungen sind unter einem Corona-Regiment so nicht mehr gegeben. Das Gebot der „sozialen Distanz“, das immer mal wieder verschärft werden kann, untergräbt die Voraussetzungen eines demokratischen Gemeinwesens in einer Art und Weise, die man sich in der Nachkriegsgesellschaft der 1950er und 1960er Jahre niemals hätte vorstellen können. Damals entwickelte sich aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs ein demokratisches Gemeinwesen, das nicht zuletzt durch hohes Wirtschaftswachstum für nahezu alle Bevölkerungsschichten die Fortschrittstendenz einer aufstiegsorientierten Gesellschaft greifbar machte. Es entstand ein Gemeinschaftsgefühl, das von einem breiten Zukunftsoptimismus unterfüttert war. In diesem Gemeinwesen kombinierten sich Beständigkeit, Verbindlichkeit und Vertrautheit mit einer zukunftsgerichteten Entwicklungsdynamik, die gerade durch die Inanspruchnahme von Bürgerrechten durch mündige, aber auch verwurzelte Bürger erzeugt wurde. Bürgerrechte waren also nicht bloß als institutionalisierte Garantien einer unantastbaren intimen Privatsphäre erlebbar. Sie garantierten dem Bürger gerade auch die Möglichkeit, in Parteien einzutreten oder neue zu gründen, sich publizistisch zu betätigen, gewerkschaftlich zu engagieren, an politischen Demonstrationen teilzunehmen sowie bei vorliegender beruflicher Eignung in den Staatsdienst einzutreten, zu wählen und sich in politische Ämter wählen zu lassen.

Auf diese Weise konnten mündige Bürger eines demokratischen Staatswesens – verfassungsrechtlich garantiert – durch eigene Beiträge, seien sie kultureller, beruflicher oder politischer Art, die politische Landschaft, die staatlichen Institutionen, das öffentliche Meinungsklima und das Arbeitsleben mitprägen – sowie als Wähler die Autoritäten in unserer Gesellschaft zur Rechenschaft ziehen. Bürgerrechte garantierten also, dass das persönliche Engagement, die eigenen Ideen, die eigenen Initiativen unsere Wirtschaft, Kultur und Technik sowie unsere Institutionen, Konventionen und gesetzlichen Normen weiterentwickeln konnten.

Diese Bürgerrechte lassen sich auf keinen Fall mit einem Elitengedanken vereinbaren, laut dem eine vermeintlich höhere gesellschaftliche Autorität jedem Menschen seinen ihm vorbestimmten Platz zuweist. Bürgerrechte vertragen sich auch nicht mit noch so „wissenschaftlich“ verbrämten Gesetzen, die – für den Normalbürger undurchdringbar – als eine unentrinnbare Tatsache des Lebens erscheinen. Dennoch hat sich genau dieser Fatalismus in der offiziellen Politik jetzt durchgesetzt. Unter dem Eindruck einer nicht mehr grundlegend verbesserbaren, angeblich immer gefährlicheren und unwirtlicheren Welt hat sich ein freiheits- und fortschrittsfeindlicher Sinneswandel vollzogen, der unsere Gesellschaft lähmt und spaltet. Dabei hat sich die Rechenschaftspflicht, die in einer demokratischen Gesellschaft die Eliten dem Volk schulden, ins Gegenteil verkehrt.

Eliten: Unterdrücker statt Visionäre

Die Legitimation für ihre herausgehobene Stellung können Eliten in einer freiheitlichen Demokratie nur daraus beziehen, dass ihr Wirken einen sichtbaren Nutzen für das Gemeinwesen aller Bürger erbringt. Ihr Erfolg muss auch dem Fortkommen aller anderen Bürger dienlich sein. Ihre Ausdauer, ihr Fleiß, ihre Willenskraft, ihre Intelligenz und ihre Kreativität müssen dazu beitragen, dass daraus ein Mehr an Möglichkeiten und Chancen für alle Bürger zutage tritt. Und es versteht sich eigentlich von selbst, dass ihr öffentlichkeitswirksames Agieren in einer demokratischen Gesellschaft einer ständigen freien Diskussion unterliegen sollte, in der sie sich einer kritischen Öffentlichkeit stellen müssen. Dabei herrschen die Prinzipien der Meinungsfreiheit und des demokratischen Machtwechsels. Erst dadurch lassen sich die Gefahren kompensieren, die in Machtmissbrauch, Gängelung und Unterdrückung münden können.

„Unter dem Eindruck einer nicht mehr grundlegend verbesserbaren, angeblich immer gefährlicheren und unwirtlicheren Welt hat sich ein freiheits- und fortschrittsfeindlicher Sinneswandel vollzogen, der unsere Gesellschaft lähmt und spaltet.“

Eliten gerieren sich heutzutage jedoch mehr und mehr als bürgerferne Verkünder und Vollstrecker ominöser Sachzwänge. Sie treten öffentlich nur noch sehr selten als Pioniere und Ideengeber in Erscheinung, die zum Fortschritt und zu der Freiheit aller Bürger beitragen. Die Eliten nehmen stattdessen die real existierende, zunehmend gelähmte und durch die Aussicht eines sich anbahnenden Zusammenbruchs heimgesuchte Wirtschaftsordnung als gegeben hin. Es ist eine Ordnung, in der politische Souveränität zunehmend auf supranationale und andere Körperschaften transferiert worden ist. Diese Ordnung erzeugt mittlerweile für große Teile der Bevölkerung in den westlichen Gesellschaften bestenfalls stagnierenden Wohlstand. Zugleich treibt sie die ökonomische Ungleichheit unter den Menschen voran, die verstärkt auch eine lebensweltliche Spaltung bewirkt. Verunsichernd wirkt dabei auch eine kulturell herbeigeführte Orientierungslosigkeit. So wird heute zunehmend die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen altersbedingten Reifegraden von Menschen verwischt - und eine modische Politik der „Diversität“ vorangetrieben.

Im Zuge dieser Entwicklung wächst unter den Politikern, aber auch unter normalen Bürgern das Bedürfnis, die Not zur ideellen Tugend zu erklären. Nicht wenige Leute scheinen sich heutzutage vom Versprechen der Wiederkehr einer vorkapitalistisch anmutenden Ordnung verlocken zu lassen: Danach verspricht die Obrigkeit existenzielle Sicherheit und Stabilität. Im Gegenzug fügt man sich gehorsam „alternativlosen“, von außen verkündeten Normen. Das geschieht vor dem Hintergrund, dass man sich in einem auseinanderdriftenden Gemeinwesen vorzufinden wähnt, das durch autoritäre Führung und kleinteilige Normen zusammengehalten werden muss. Dass dabei diese Entwicklungen von nicht wenigen, ihrerseits verunsicherten Menschen begrüßt werden, liegt an einer Freiheitsmüdigkeit in einer ambitionslosen, haltlosen und ziellosen Gesellschaft, in der ein Gefühl des Kontrollverlustes verbreitet ist.

So hat sich unter dem Eindruck, dass sich unsere Welt nicht mehr grundlegend verbessern lässt, ein neues Staatswesen etabliert. Dieses sieht im Menschen kein kreatives Potenzial mehr. Der Mensch wird hier nicht mehr als kreative Quelle ökonomischer und kultureller Wohlstandssteigerungen angesehen. Die Idee einer durch demokratisch generierte Normen angeleiteten und dynamischen Gesellschaft mündiger und mobiler Bürger ist damit seit Langem auf dem Rückzug. Stattdessen verschreibt sich das neue Staatswesen einer Politik der puren Schadensbegrenzung. Die Bürger dieses neuen Staatswesens erscheinen nun mehr und mehr als zu überwachende, zu beschützende, zu hemmende und in ihrer Mobilität einzuschränkende Gefahrenquellen. Diese grundlegende Neuausrichtung zeigt sich nicht zuletzt in den Diskussionen über den Klimawandel, aber auch im Zuge der Bekämpfung der Corona-Pandemie am gewandelten Charakter der Wissenschaft.

Wie Thilo Spahl in diesem Buch schreibt, fungiert Wissenschaft teilweise nicht mehr wirklich als freier Erkenntnisprozess zur Ermöglichung von mehr Produktion, mehr Konsum, mehr Mobilität und mehr Unabhängigkeit für alle Bürger. Stattdessen wirken in der Öffentlichkeit staatsnahe Wissenschaftler als Überbringer der fatalistisch anmutenden Kunde, dass dieses und jenes Verhalten der Bürger, werde es nicht unterbunden, laut präventiv vorausschauender Klimamodelle oder Pandemieprognosen zu irreparablen Schäden am ökologischen Gleichgewicht, an der Volksgesundheit und anderem führe. Fatal ist dabei, dass Wissenschaft für einen politischen Dogmatismus herangezogen wird, der den demokratischen Entscheidungsprozess mehr und mehr verdrängt.

„Eliten gerieren sich heutzutage mehr und mehr als bürgerferne Verkünder und Vollstrecker ominöser Sachzwänge.“

Wahre Wissenschaft beschränkt sich darauf, der Politik eine möglichst breit aufbereitete Palette an Entscheidungsgrundlagen zu liefern. Die Wissenschaft darf nie den eigentlichen politischen Diskurs ersetzen, in dem es darum geht, die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Interessen und Konflikte sichtbar zu machen und zu diskutieren. Wie an der Corona-Krise jedoch besonders deutlich erkennbar, wandelt sich „die Wissenschaft“ zu einem politischen Instrument, das die Unterdrückung und die Einschränkung der Bürger legitimiert. Die politischen Eliten sehen ihre Aufgabe nun darin, die Bürger zu überwachen, zu maßregeln, in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken und ihre spontane physische Kontaktaufnahme zu unterbinden.

Management menschlicher Schwächen

Die Corona-Krise verhalf dem Trend zu einer immer kleinteiligeren Regulierung des gesellschaftlichen Lebens zu neuen Durchbrüchen. Die Vorstellung, wonach der freie, unbeobachtete und sich ungehemmt mit anderen Bürgern assoziierende Nutznießer von Grundrechten eine Gefahrenquelle für die Gesundheit Anderer darstelle, ist von nun an nicht mehr wegzudenken. Das knüpft an den Trend in Politik, Gesellschaft und Medien an, unkontrollierte menschliche Regungen und Interessen fast schon medizinisch zu pathologisieren. Der frei und spontan agierende Mensch wird zusehends als hauptsächliche Quelle aller möglichen Krisen und gesellschaftlichen Missstände angesehen. Das sind keine guten Bedingungen für einen freiheitlichen Rechtsrahmen, der verantwortungsbewusste, autonome, sich neue Ziele setzende, damit neue Orientierung und neuen Wohlstand schaffende Menschen beherbergt.

Das Hauptaugenmerk politischer Diskussionen liegt bereits seit vielen Jahren darin, die angeblich von niedrigen menschlichen Beweggründen wie Gier oder Hass befeuerten, aber auch von menschlichen Unzulänglichkeiten wie Leichtgläubigkeit, Unwissenheit, Verführbarkeit und Manipulierbarkeit weiter beförderten Krisen notdürftig zu managen. Es entsteht eine Weltsicht, in der zahllose, letztlich unlösbare Probleme ihre Quelle in rein egoistischen Begehrlichkeiten teils bösartiger, teils bemitleidenswerter Individuen oder Gruppen zu haben scheinen. So hat sich der Eindruck verfestigt, dass wir als Menschen eine irrationale und von konkurrierenden Beweggründen angetriebene Ansammlung sozialschädlicher Individuen sind, die besser im Zaum zu halten sind.

Die politischen Eliten sehen ihre Hauptaufgabe nun nicht mehr darin, die Interessen der von ihnen regierten Bürgerschaft zu repräsentieren. Folglich sieht sich die Politik als eine Art Hirte einer irrationalen Herde aus zahlreichen Zielgruppen, derer sich ein neuartiges Gesellschaftsmanagement anzunehmen habe. Wie Christoph Lövenich in diesem Buch schreibt, ist die schleichende Entwicklung eines so genannten Nanny-Staates, der sich der Therapie persönlicher Schwächen widmet, ein sichtbarer Ausdruck dieser Geisteshaltung.

„Die Politik sieht sich als eine Art Hirte einer irrationalen Herde aus zahlreichen Zielgruppen, derer sich ein neuartiges Gesellschaftsmanagement anzunehmen habe.“

Hinter dem Nanny-Staat steckt die Vorstellung, dass der einzelne Bürger nicht einmal mit banalen Aspekten der persönlichen Lebensführung zurechtkommt und deshalb mindestens staatliche Anleitung in Form ermahnender Anschubser (engl. to nudge = anschubsen) benötigt. Manchen Gesellschaftsgruppen werden auch drastischere Eingriffe in Aussicht gestellt. So wird seit einiger Zeit darüber diskutiert, ob es angesichts überforderter Eltern in prekären Lebenslagen nicht sinnvoll sei, die Kindeserziehung an das Erfordernis eines „Elternführerscheins“ zu koppeln. Überdies ist es längst schon üblich, Arbeitslosen sozialpolitische Maßnahmen etwa in Form von Bewerbungstrainings aufzudrücken, um sie „in Bewegung“ zu halten und so einer individuell einzuordnenden „Beschäftigungsunfähigkeit“ beizukommen.

Jede einzelne Verfügung aus dem Arsenal des Nanny-Staates, seien es Rauchverbote, Lebensmittelampeln, gesundheitliche Warnhinweise, Nudges oder andere Aktionen, mag für sich allein harmlos, gar hilfreich und nützlich erscheinen. Die eigentliche Brisanz liegt hier darin, dass der Nährboden für ein geistiges Klima bereitet wird, das eine bedenkliche Kombination aus persönlichem Unvermögen, empfundener Machtlosigkeit, Verantwortungsscheu und einem Fokus auf menschliche Destruktivität (anstelle von Kreativität) kultiviert. Indem er die Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen nach und nach verwischt, greift der Nanny-Staat in den Status des selbstbewussten Bürgers ein, der zugleich doch für fähig erachtet werden soll, aktiv am demokratischen Prozess der Auseinandersetzung mit komplexen politischen Sachfragen teilzunehmen.

Wem man nicht zutraut, sein eigenes Leben ohne Lenkung und Aufsicht zu führen, dem wird sehr schnell die Fähigkeit abgesprochen, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Wenn den Menschen die Vernunft und Erkenntnisfähigkeit darüber abgesprochen wird, ob, was und wie viel sie essen, trinken oder rauchen können, wie sie ihre Kinder erziehen sollen, ob sie Verträge frei zu gestalten vermögen, dann ist es nur ein kleiner Schritt, ihnen die Fähigkeit abzusprechen, in einer Demokratie mitzuentscheiden.

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